© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Wissenschaft und Mystik sind komplementär
„Pardon“-Herausgeber Johannes Hans A. Nikel will das „Phänomen Mensch“ mit Quantenphysik und Meister Eckhart erklären
Horst A. Hoffmann

Es sind wohl die Phänomene wie Entfremdung und neue Sinnsuche, die uns aufhorchen lassen bei dem Titel des jetzt erschienenen Buches: „Die Mystik der Physik.  Annäherung an das ganz Andere“. Der Autor Johannes Hans A. Nikel ist kein Unbekannter.  Er war Begründer und Herausgeber der satirischen Zeitschrift Pardon, die in den sechziger und siebziger Jahren unterstützt von Kästner, Loriot oder Enzensberger zum Kultblatt der jungen deutschen Intelligenz wurde. Zu seiner vielfältigen Herausgeber- und Verlegertätigkeit gehörte auch die Gründung der Deutschen Verbrauchervereinigung, aus der später die Verbraucherzeitschrift DM hervorging.

Aber neben dieser exponierten politischen Tätigkeit gab es für diesen schwer einzuordnenden Kopf auch eine stillere, verinnerlichte Welt. Er studierte Philosophie und Soziologie bei Horkheimer und Adorno und war  Assistent an deren Institut für Sozialforschung. Jahre später promovierte er 1983 mit einer Arbeit über Meister Eckhart und mittelalterliche Mystik. Doch diese auf den ersten Blick weit gespannte Distanz verschiedener Interessen ist nur eine scheinbare. Schon damals ging es ihm um die große Einheit in allem Existierenden und in uns selber. „Wir sind mehr, als wir wissen.“ Es galt, die neuen, erstaunlichen Übereinstimmungen dieser mittelalterlichen Erkenntnismodelle mit Forschungsergebnissen unserer Zeit, etwa der Quantenphysik und der Relativitätstheorie, aufzuzeigen. Durch Positivismus und Pragmatismus, durch unseren alle Bereiche durchdringenden Machbarkeitswahn sehen wir nicht nur die äußere Welt als meßbar und unbegrenzt manipulierbar, sondern legen auch an den Menschen selber Maßstäbe eines Produktionsfaktors an. Dabei geht es bei dem notwendigen Neuansatz nicht um den Ersatz des Alten, sondern um ein Integrieren des Neuen dort, wo alte Denkstrukturen keine gültigen Antworten mehr geben können.

Mit diesen wiederentdeckten Übereinstimmungen scheinen sich jetzt Kreise zu schließen. Die durch unseren Rationalismus aus der ursprünglichen Einheit einer ganzheitlichen mystischen Erkenntnis getrennten „Bauelemente des Universums“ nähern sich wieder einander an. „Wissenschaft und Mystik sind komplementär“, so Nikel. Diese Forderung nach Ganzheit gilt auch und besonders für das „Phänomen Mensch“, dieses Universum von neuro-psycho-endokrinologischen Regelkreisen, die Vielfalt seiner senso-motorischen Reaktionsmuster, seiner bewußten und unbewußten Welten. Der in der wissenschaftlichen Forschung und der klinischen Evaluierung der Ergebnisse immer noch gültige Königsweg des randomisierten Doppel-Blind-Versuchs, das immer noch gültige „biomedizinische Modell“ (Fritjof  Capra) mit seiner linearen, reduktiven Arbeitsweise kann aber diese komplexen Phänomene in ihren Wechselwirkungen immer weniger erfassen.  

Der immense Erkenntniszuwachs in Teilbereichen, wie er an der zunehmenden Spezialisierung ärztlicher Praxis sichtbar wird, muß für den Patienten erfahrbar  wieder zusammengefügt werden. Anders verfehlt ärztliches Wirken im Sinne von Helfen und Heilen seine wesentlichste Aufgabe. Daraus resultiert die anspruchsvolle Forderung, daß der Mensch trotz der Fülle der Detailkenntnisse immer noch als ein harmonisches, unteilbares Ganzes begriffen wird und daß solches dem Patienten selbst erfahrbar wird und dieser sich in seiner Ganzheit wiedererkennt. Denn ein solchermaßen von einer hochspezialisierten Medizin in seine Teilfunktionen zerlegter Patient fühlt sich auf eine neue und früher nie gekannte Weise alleingelassen. Ein Beispiel aus der Praxis mag das veranschaulichen: Wenn einem Patienten bei der Visite nach Auswertung aller diagnostischen Daten eröffnet wird, daß er nunmehr als geheilt entlassen werden kann, muß sich diese frohe Botschaft vom „Heil-Sein“ nicht unbedingt mit seiner Selbstwahrnehmung decken.

Hier könnte eingewandt werden, daß so weitreichende Ansprüche an den medizinischen Praxisalltag heute angesichts der zunehmenden Ökonomisierung ärztlicher Einrichtungen, der Privatisierung von Krankenhäusern, durch arztfremde bürokratische Vorgaben etc. im luftleeren Raum gestellt werden. Hinzu kommen die Grenzen der Belastbarkeit einer Solidargemeinschaft, deren demographische Perspektive immer kritischer wird. Das alles kann aber die Notwendigkeit einer neuen Standortbestimmung nicht überflüssig machen, da es um um Sinnfragen ärztlichen Wirkens, um unsere Sehnsucht nach Ganzheit geht. Was für den Menschen als kleines Universum gilt, hat auch Gültigkeit für das große, dem wir zutiefst angehören. Wir leben allenthalben in einer „Wendezeit“(F. Capra ). Bei Meister Eckhart heißt es: „Von innen heraus handeln, aber handeln“!

Johannes Hans  A. Nikel: Die Mystik der Physik. Annäherung an das ganz Andere. Verlag Steve-Holger Ludwig, Kiel 2010, broschiert, 220 Seiten, 18,90 Euro

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