© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Deutsch-Polnische Geschichte
Die Gegenwart des Vergangenen
von Harald Seubert

Die Tragödie des Flugzeugabsturzes von Smolensk am 10. April hat, soweit man sehen kann, eine neue Dimension in die polnisch-russischen Verhältnisse gebracht. Zugleich hat es unseren östlichen Nachbarn kenntlich gemacht. Was jeden, der tiefer mit Polen zu tun hat, verblüfft, berührt und bewegt: die Präsenz der Geschichte, die wie in die Haut geritzt ist. Das frühe Mittelalter, Deutscher Orden und Piastenherrschaft, vor allem aber das tiefe Trauma der Teilungen Polens sind wie gestern geschehen. Politik hat in polnischer Perspektive ein langes Gedächtnis. Ein tiefer Patriotismus, verbunden mit Katholizismus, der den Kommunismus immer als Fremdherrschaft begriff, prägte vor allem die Kaczyński-Zwillinge.

Polen sah sich auch neu mit sich selbst konfrontiert: Vielen, zumal jüngeren, war dieser alte Nationalpatriotismus fremd geworden, wie aus der Zeit gefallen. Nicht zuletzt ehemalige Kaderintellektuelle stürzten sich in die westlichen Kulturtheorien, Dekonstruktivismus und Stereotypenforschung halfen sich selbst auszuweichen. Selbst in die Solidarność-Bewegung, die in diesen Wochen ihren dreißigsten Jahrestag begeht, hatten sich tiefe Spaltungen eingegraben. Der liberale und der konservative Flügel waren kaum mehr zur Einigkeit fähig.

Vor wenigen Wochen im Zusammenhang mit den unendlichen Debatten um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ fiel das abwertende Wort, es gehe dabei doch nur um eine Versöhnung der Deutschen mit sich selbst. Auch in Polen zeigt sich nun in eindrucksvoller Weise eine Versöhnung der gespaltenen Nation mit sich selbst – in Trauer und Selbsterkenntnis. Kann Versöhnung nach außen überhaupt eine andere Wurzel haben?

In ihrer bedeutenden Literatur lebte die polnische Nation nach den Teilungen weiter. Polen als der „Christus der Nationen“ wurde zum Topos. Stolz wurde aus der Niederlage geboren. Lech Kaczyński hätte in seiner tragisch ungehaltenen Rede in Katyn den Ort der Massaker von 1940 nahe Smolensk als „polnisches Golgatha des Ostens“ bezeichnet. Dennoch wäre seine Rede ebenso ein Plädoyer für Wahrheit wie für Versöhnung gewesen.

Die jüngsten Ereignisse geben Anlaß, neu nach einigen Konstanten und Konstellationen des deutsch-polnischen Verhältnisses zu fragen. Es ist an der Zeit, die einzelnen Epochen dieser Geschichte in ihrem Eigenrecht zu erfassen. Man wird sich ihrer nicht entledigen, wenn man meint, aus alten quälenden Differenzen unvermittelt in eine gesichtslos ökonomische Zukunft springen zu können.

Die deutsch-polnische Geschichte ist labyrinthisch verlaufen. Es ist keineswegs eine einzige große Wunde wie die polnisch-russische Geschichte. Seit ottonischer Zeit orientierte sich Polen nach Westen, hin zu Kaiser und Papst. Es sah sich dezidiert als Bestand des christlichen Abendlandes. Aus dem Osten fürchtete man Despotie und Zerstörung. Die Latinitas überlagerte das slawische Selbstverständnis. Und doch: In Sprache und Literatur, Religiosität, im Lied und in der Trauer sind Polen den Russen so nahe, wie sie politisch von ihnen entfernt sind.

Was jeden, der tiefer mit Polen zu tun hat, verblüfft: die Präsenz der Geschichte, die wie in die Haut geritzt ist. Das frühe Mittelalter, Deutscher Orden und Piastenherrschaft, vor allem aber das tiefe Trauma der Teilungen Polens sind wie gestern geschehen.

Polen und Deutschland sind eng verflochten. Der Staat des Deutschen Ordens in Preußen unterstellte sich, in sich wandelnden Rechtsformen zwischen Lehen und Bündnis, der polnischen Schutzmacht. Preußen war für 200 Jahre, von 1466 bis 1795, fest im Königreich Polen etabliert. Der Begriff Prusse gewinnt von hierher seine identifizierende Bedeutung. Als im Jahr 1523 der Ordensmeister Herzog Albrecht befand, daß der Orden „dringend einer Reformation nothdürftig sei“, und sich mit Luther besprach, riet ihm der große Reformator (in dieser Reihenfolge!), zu heiraten und ein weltliches Herzogtum zu etablieren.

Damit beginnt die Reformationsgeschichte Polens und die – mit dem Reichstag von Lublin 1569 begründete – Idee der Adelsrepublik Polen-Litauen. Deren Prinzip war demokratisch-republikanisch: Der Adel wählte den König, er berief Reichstage ein und überwachte die königliche Politik durch sechzehn Senatoren. Die eindrückliche Maxime: „Nic o nas bez nas“ – „Nichts über uns ohne uns“ – bleibt für Jahrhunderte Leitmelodie polnischer Freiheit. Dennoch kennzeichnete von Anfang an eine Ambivalenz jene Republik: Sie hielt an der Leibeigenschaft fest, und die Szlachta wurde von innen heraus korrumpiert.

Im 16. Jahrhundert spricht man auch von Polen als dem „slawischen Kanaan“, dem Land ohne Scheiterhaufen. Und Polen wurde auch tatsächlich für einige Zeit Sammelbecken für die Häretiker aller Länder Europas: Arianer und Antitrinitarier. Der Boden, auf dem diese Toleranz anderen Bekenntnissen gegenüber gedeihen konnte, war in der vom katholischen Humanismus begründeten polnischen Renaissance bereitet. Erst durch die schwedischen Wasa-Könige und eine massive – vor allem von Jesuiten getragene – Rekatholisierung etablierte sich die Einheit von Kirche und Nation, die für Polen zumindest bis an den Beginn des 21. Jahrhunderts bestimmend sein sollte.

Nach der ersten Teilung sprach Carlyle von der Adelsrepublik als einem „anmutig phosphoreszierenden Moderhaufen“. Katharina II. benannte angesichts der von Rousseau inspirierten polnischen Verfassung von 1791 den ungebrochenen Freiheitsdrang als „polnische Pest“. Die Adelsrepublik wurde in Polen selbst immer mehr zum Gegenbild gegen den Despotismus der großen Mächte verklärt. Daran ist etwas Wahres, die ganze Wahrheit ist es nicht. Denn Wahrheit ist auch die ehrliche Empörung der preußischen Ministerialen über Leibeigenschaft und das ökonomische und Bildungsniveau der Landbevölkerung.

Man sollte diese Bilanzen heute jenseits der alten verengenden Optiken studieren. Von geradezu vorbildlicher Einfühlung sind die Erlasse preußischer Administration nach den Teilungen. Amtserlasse wurden selbstverständlich immer mit Übersetzungen ins Polnische versehen. Den Polen sollte eine Verfassung gegeben werden, „bei der ihr Nationalstolz beruhigt würde“ (Freiherr vom Stein). Friedrich Wilhelm III. fand eine den Freien Herrn des Adels angemessene Formulierung: „Ich hoffe auf Eure Anerkennung rechnen zu dürfen.“ Andere sprachen gar vom höchsten Ziel, die Liebe des polnischen Volkes zu gewinnen. Dies konnte im großen Umfang kaum gelingen, da das Selbstverständnis der staatlich nicht existenten Nation die Teilungszeit als „Zeit am Kreuz“ und „Reise durch die Hölle“ begriff.

Die Verklärung der Adelsrepublik begann mit ihrem Untergang. Als sich die Märtyrergeschichte immer tiefer eingrub, wurde zugleich die altpolnische Vergangenheit zum zeitlosen Maßstab erhoben: Die Piasten und die altsarmatischen Trachten wurden wiederbelebt. Der alteuropäisch melancholische Charme ist in Chodowieckis Stichen wunderbar sichtbar gemacht. Das 19. Jahrhundert war für Polen auch das Zeitalter der Emigration der Besten. Der Nationaldichter Adam Mickiewicz schrieb: „Wer der Freiheit folgt, soll sein Vaterland verlassen und sein Leben wagen. Denn wer in seinem Vaterland bleibt und Sklaverei duldet, der verliert das Vaterland und das Leben.“

Dennoch bleibt die Orientierung Polens nach Westen unverrückbar. Doch auch preußischer Staatsräson war die Gefahr der Adelsrepublik tief eingebrannt. Sie spiegelt sich in den politischen Testamenten der Hohenzollern, und noch in den großen Reichstagsdebatten zwischen Bismarck und den polnischen Ständen ist die gesamte Geschichte eindrucksvoll lebendig. Um jeden Preis abzuwehren war aus preußischer Sicht die Tendenz polnischen Adels zur Konföderation gegen den König.

Eine – fast tragische – Gegenbildlichkeit zwischen dem alten Polen und Preußen gibt die Leitmelodie ab: Der aufsteigende administrativ zentral geführte Rationalstaat und die anarchisch alteuropäische Adelsrepublik wiesen als politische Formprinzipien denkbar weit auseinander. Zwischen ihnen konnte es keinen Ausgleich geben. Doch mußte es so sein? Die traumatische Erfahrung der Zerstörung ihrer Nation und der Wiedergeburt aus Dichtung und Gedanken müßten Polen und die Deutschen der Napoleonischen Besatzung zu Empathie befähigen. Bis heute sind die letzten Tiefen gemeinsam geteilter Geschichte noch nicht ausgelotet, auf die Ingeborg Bachmanns wunderbare Formulierung: „ungetrennt und nicht geeint“ zutreffen mag.

Die Nationalitätenfrage verschärfte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts dramatisch. Germanisierungen und Polonisierungen, Ausreißen der Sprach- und Bekenntnisidentität hier und dort, waren in ihren Methoden nicht allzu verschieden. Dennoch gab es, etwa in einer Stadt wie Posen, gemeinsame Logenhäuser, enge kulturelle Kontakte, auch im Kleinbürgertum: Händler und Kaufleute hatten ähnliche Interessen. Dies lehrt, daß der Nationalstaat einerseits ein – unverzichtbares – Instrument rechtlicher Befriedung ist, daß aber unbedingte ethnische Homogenität von innen heraus die politische Form aufsprengt.

Auch für Polen war der Erste Weltkrieg die Jahrhundertkatastrophe: Umworben von allen Kriegsparteien, formulierte Woodrow Wilson im Zusammenhang seines Programms, daß alle Gebiete mit eindeutig polnischer Bevölkerung polnisch werden und einen Zugang zum Meer haben sollten. Polen hatte im Krieg große Opfer erbringen müssen. Nun wurde ein tönernes Gebilde geschaffen, das das europäische Gleichgewicht empfindlich stören mußte. Man weiß um die Folgen.

Das deutsch-polnische Verhältnis darf nicht den Eurokraten überlassen werden. Phasen des Aneinander-Leidens stehen Perioden guter Zusammenarbeit gegenüber. Unser östlicher Nachbar kann uns vieles lehren: nicht zuletzt, daß Geschichte Gegenwart ist.

Bei aller Ambivalenz – es gibt für die Zerstörung Polens zwischen der Skylla Hitlers und der Charybdis Stalins im 19. Jahrhundert keinerlei Präzedenz. Und es ist schwierig, nicht an das Bild vom „Christus der Nationen“ zu denken, wenn man sieht, wie mit dem Hitler-Stalin-Pakt jener worst case, jenes Teilungstrauma blutigste Realität wurde: nicht mehr im Medium der Politik des Friderizianischen Zeitalters, sondern mit der undurchdringlichen totalitären Gewalt. Namentlich die SS verfolgte eine unvorstellbare Destruktion der polnischen Kulturnation zu einem Sklavenvolk: Vier Schuljahre, elementares Lesen und Schreiben bis zum vierten Volksschuljahr, Zählen bis 500 war Himmlers Rezeptur.

Es ist tragisch, daß auch nach 1945 den Polen Geschichte und Gedächtnis ausgelöscht wurden. Die kommunistischen Volksgarden hatten nur minimalen Anteil am Widerstand gehabt und wurden doch durch das Lubliner Komitee bestimmend. Die Aufständischen des Warschauer Aufstandes, von der SS-Panzerdivision Wiking niedergeschlagen, wurden von Stalin als eine „Handvoll Verbrecher“ beschimpft.

Dies ist der Hintergrund der schrecklichen Geschichte von Flucht und Vertreibung, legitimiert in dem Dekret vom August 1944 zur „Bestrafung der faschistisch-Hitlerischen Verbrechen“, das keine Grenzen der Humanität kannte und maßlose Rachelust nicht beschnitt. Der Diplomat Jan Karski hatte in einem Gespräch mit Roosevelt 1943 dieses Szenario genau prognostiziert: „Es wird zum offenen Terror kommen.“ Man weiß es: Die Arrondierung der deutschen Gebiete und die Versagung aller Rechte, welche die Atlantikcharta vorsah, geschah unter stillschweigendem Zusehen der westlichen Alliierten.

Die Heimatemigration wurde gebrochen, die Emigration gespalten, mit eiserner Hand übernahmen die neuen Herren von Stalins Gnaden das Regiment. Polen dürfte im Zweiten Weltkrieg ein Fünftel der Vorkriegsbevölkerung verloren haben, durch Tod und Emigration: nicht zuletzt durch das Ausrotten seiner Eliten. Dieses polnische Trauma verschmilzt geradezu mit dem Namen Katyn.

Nirgends wurde der Kommunismus so sehr als Fremdherrschaft und Oktroy aufgefaßt wie in Polen. Der polnische Freiheitsdrang und die Aufstände durchziehen die Nachkriegsgeschichte: 1956, 1970, 1976 sind in Polen magische Zahlen, die dem großen Frühlingserwachen des Solidarność-Jahres vorausgingen. Es gab in Polen eine eigenständige, katholisch geprägte Intelligenz, die wie der Fisch im Wasser im Volk lebte. Der Völkerfrühling Europas ging 1980 von Polen aus. Als General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht ausrief, war auf Aufschriften zu lesen: „Der Winter gehört euch – der Frühling uns.“

Deutschland und Polen: Dieses Verhältnis darf auch heute nicht den Eurokraten überlassen werden. Schwer wiegt die geteilte Geschichte, in der es viel Schmerz, aber auch wunderbare Entsprechungen gibt. Übrigens haben für dieses Verhältnis die Vertriebenenverbände ungleich mehr getan als der Mainstream. Am schlimmsten wären Gleichgültigkeit und der Gestus gegenüber einem „armen Verwandten im Osten“. Dies Land kann uns vieles lehren: nicht zuletzt, daß Geschichte Gegenwart ist.

 

Prof. Dr. Harald Seubert, Jahrgang 1967, studierte Theologie, Philosophie, Literaturwissenschaften und Geschichte; langjährige Lehrtätigkeiten an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Halle-Wittenberg. Seit 2006 ist er Ordinarius für Kulturphilosophie und Ideengeschichte des deutschen Sprachraums an der Universität Posen. Seit 1993 zahlreiche Gastdozenturen und Gastprofessuren in Süd- und Osteuropa. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das „Elend der Bologna-Universität“ (JF 5/10).

Foto: Grabmal des Unbekannten Soldaten in Warschau mit Erde von den Schlachtfeldern des Ersten und Zweiten Weltkrieges, auf denen polnische Soldaten kämpften: „Wer der Freiheit folgt, soll sein Vaterland verlassen und sein Leben wagen. Denn wer in seinem Vaterland bleibt und Sklaverei duldet, der verliert das Vaterland und das Leben“ (Adam Mickiewicz)

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