© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/10 30. April 2010

Der dritte Mann
Großbritannien: Die Liberaldemokraten und ihr Spitzenkandidat Nick Clegg profitieren vom Wählerfrust über Labour und die Tories
Derek Turner

Der Aufstieg der Liberaldemokraten kurz vor den Unterhauswahlen hat die britischen Medien in Unruhe versetzt. Parteichef Nick Clegg gilt als „Gewinner“ der Fernsehdebatten mit Premierminister Gordon Brown und Tory-Chef David Cameron. Die Zustimmungswerte der LibDems sind um etwa 14 Prozentpunkte angestiegen. In einigen Umfragen konnten sie sogar die seit 1997 regierende Labour-Partei überholen und lagen mit etwa 30 Prozent knapp hinter den Konservativen.

Daß Clegg vor einem Millionenpublikum mit den Vorsitzenden der beiden großen Parteien diskutieren durfte, war bereits ein Riesenerfolg für seine Partei. Wie penibel er sich auf die erste Debatte am 15. April vorbereitet hatte, dokumentierte genüßlich The Sun. Dort wurden die Stichpunkte seines Wahlkampfleiters John Sharkey veröffentlicht, die dieser in einem Taxi liegenließ. „DC (David Cameron) redet viel über Werte. Wir müssen dasselbe tun“, zitierte das Boulevardblatt. Clegg solle langsam sprechen, nicht in politischen Jargon verfallen, Brown als „Sonderling“ und „Politiker alten Stils“ darstellen, Cameron wegen seiner Abstammung aus der Oberschicht angreifen, sich durch Zurücklehnen von seinen Rivalen distanzieren und direkt in die Kamera schauen.

Somit wissen die Wähler inzwischen mehr über Sharkeys Wahlkampfstrategie als über den Mann, dessen Partei bald Juniorpartner einer Koalitionsregierung sein könnte, wenn das Wahlergebnis tatsächlich so knapp ausfällt, wie Umfragen suggerieren. Die LibDems entstanden 1988 aus einer Fusion zwischen der Liberalen und der Sozialdemokratischen Partei, einer Labour-Abspaltung.

Zu ihren Glanzzeiten im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte die Liberale Partei sich unter Premierministern wie William Gladstone und David Lloyd George mit den Tories beim Regieren abgewechselt. Ab 1918 verlor sie rasch Boden an die Labour Party und berappelte sich erst nach der Fusion mit der SDP wieder. 1992 gewann die neue Partei 20 Parlamentssitze, 1997 schon 46, 2001 konnte sie sich auf 52 und 2005 noch einmal auf 62 verbessern. 2006 kam bei einer Nachwahl ein Sitz hinzu.

Politisch korrekt attackiert Clegg die „Politik alten Stils“

Ihre elf Abgeordneten im Europaparlament gehören wie die FDP zur Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa an. Auch im schottischen (16 von 129 Sitzen) sowie im walisischen Parlament (5 von 60 Sitzen) sind die LibDems vertreten. In Nordirland arbeitet man mit der Alliance Party zusammen. Weitere 4.200 LibDem-Abgeordnete sitzen in Stadt- und Gemeinderäten in England, Schottland und Wales, in 31 davon hat die Partei die Mehrheit.

Ein kurzer Blick auf seine Biographie straft die weitverbreitete Annahme Lügen, Clegg und die 73.000-Mitglieder-Partei, deren Vorsitz er seit 2007 innehat, stehe für eine Abkehr von der „Politik alten Stils“. Clegg ist Jahrgang 1967, seine Mutter Holländerin, väterlicherseits zählen auch Nachfahren der russischen Aristokratie zu seinen entfernten Verwandten. Mit seiner aus Spanien stammenden katholischen Ehefrau Miriam González Durántez, die er am Europakolleg in Brügge kennenlernte, hat der bekennende Atheist drei Kinder. Clegg spricht neben Spanisch drei weitere Fremdsprachen (Deutsch, Französisch, Niederländisch). Wie Cameron besuchte er eine elitäre Privatschule, studierte dann in Cambridge, schrieb für renommierte Zeitungen wie die Financial Times und The Guardian. Seine politische Laufbahn begann er als Lobbyist, wechselte dann ins Europaparlament und sitzt nun seit 2005 im Londoner Unterhaus. Seine Bemühungen, sich die Verärgerung der Bevölkerung über den Spesenskandal zunutze zu machen, klängen überzeugender, hätte er die Steuerzahler nicht selber ebenfalls für allerlei Annehmlichkeiten aufkommen lassen: von Gartenmauern bis zu einem Kuchenbehälter für 2,49 Pfund.

Nach eigenem Bekunden möchte Clegg sich als „Vorreiter der progressiven linken Mitte“ für „Toleranz und Pluralismus“ stark machen, was keinesfalls „neu“ ist. Zu den Forderungen seiner Partei zählen die Einführung des Verhältniswahlrechts sowie eines gewählten Oberhauses, Steuererhöhungen für die oberen Einkommensschichten und die Ausweitung der bürgerlichen Freiheiten – was sich freilich mit der übermäßigen politischen Korrektheit der LibDems beißt. Sie sind gegen die Ausweispflicht – ein heiß umstrittenes Thema in Großbritannien – und für „Menschenrechte“, Umweltschutz und die EU. Die Partei lehnt unilaterale Kriegseinsätze wie im Irak ab und befürwortet eine „humanitäre Außenpolitik“.

Seit kurzem wollen die Liberaldemokraten zudem die Aufgabe des Trident-Atomprogramms und eine Amnestie für illegale Einwanderer – Forderungen, mit denen sich selbst die Mehrheit der Parteimitglieder nicht anfreunden kann und die Clegg bei den Fernsehdebatten sicherheitshalber unterschlug. Ebenso verzichtete er darauf, die „brutalen“ Ausgabenkürzungen näher zu erläutern, die er jüngst vorschlug, sondern beschränkte sich darauf, mehr „Ehrlichkeit“ bei den Staatsausgaben zu fordern.

Dank fleißiger Vorbereitung und einer überzeugenden schauspielerischen Darbietung – und geschuldet der schlichten Tatsache, daß er weder Brown noch Cameron ist – ist es Clegg gelungen, seine unvorbereitete Partei nach ganz oben zu katapultieren. Inwieweit sie diesen Antrieb zu nutzen weiß, wird sich am 6. Mai zeigen.

 

Derek Turner ist Publizist und seit 2007 Herausgeber der britischen Zeitschrift „Quarterly Review“ (www.quarterly-review.org).

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