© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/10 30. April 2010

Viele Fragen bleiben offen
Eine Kritik am Abschlußbericht der Kommission zur Feststellung der Dresdner Opferzahlen
Wolfgang Schaarschmidt

Dresden, den 17. März 2010. Im Rathaus der Stadt wird der Abschlußbericht der Historikerkommission zu den Luftangriffen auf Dresden zwischen dem 13. und 15. Februar vorgestellt: Die Oberbürgermeisterin der Stadt, in der Nachfolge Ingolf Roßbergs Leiterin der Kommission, überließ ihrem Kulturbürgermeister Ralf Lunau die einführende Erklärung: „Der 13. und 14. Februar 1945 können und dürfen nur im Kontext der ganzen Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges gesehen werden. Deutschland hat 1939 mit dem Angriff auf Polen einen Krieg begonnen, der schon bald Tod und Verderben auch über deutsche Städte bringen sollte. Das nationalsozialistische Regime hatte diesen Krieg seit der Machtergreifung 1933 vorbereitet, ja man kann sogar sagen, herbeigesehnt.“

Diese sonderbare Betrachtung verbindet die Kommissionäre mit den politischen Wünschen nationalmasochistischer Linker. Zehn Historiker gaben nach diesem Statement ihren Bericht ab. Am Ende seiner Ansprache übermittelte Lunau die Stellungnahme der Oberbürgermeisterin, Helma Orosz (CDU): „Mit diesem Bericht wird die Debatte um die Opferzahlen nicht beendet sein. Viel eher wird eine intensive Auseinandersetzung um die nun vorgelegten Ergebnisse stattfinden. Der Stadt Dresden ging es auch zu keinem Zeitpunkt darum, diese Debatte zu beenden, sondern es ging darum, wissenschaftliche Argumente gegen eine bewußte politische Instrumentalisierung der Opferzahlen zu erhalten. Auch wird die Stadt die Ergebnisse des Abschlußberichts nicht bewerten oder beurteilen.“

Müller sieht Fälschungen  und Verschwörungen

Die Kommission ermittelte ihre Ergebnisse, ohne das ursächliche Ereignis vorzustellen und zu untersuchen. Sie geht davon aus, alle 25.000 Dresdner Bombenopfer seien geborgen und bestattet worden. Der Nachweis ist in sich logisch und umsichtig dargestellt und verknüpft. Da sie weder das Ereignis erforscht noch alle Fakten zum Bergungsverlauf herangezogen hat, ist die Sache auf ein Meßblatt projiziert, welches nicht zulänglich ist. Weder ist dargelegt, ob tatsächlich alle Unterlagen erhalten geblieben sind, noch überzeugt die Behauptung, nahezu alle Opfer der Luftangriffe seien geborgen worden. Diese Mängel nimmt die Kommission in Kauf, um ihre Zahlenangaben schlüssig vorzustellen.

Zu den Schlüsseldokumenten zählen die Angaben über die Zahl der geborgenen Toten in der Schlußmeldung des Befehlshabers der Ordnungspolizei. Sie wird ohne quellenkritische Analyse hingenommen. Doch die inzwischen zugänglichen, von den Engländern abgehörten Funksprüche aus Dresden, die der englische Historiker David Irving fand, hätten zu weiterer Prüfung dieser Quelle anregen müssen: „24. März 1945 An [SS] Oberfhr. Dr. Dietrichs, über Hptamt d. Orpo über Paula Heidelberg 42. [„Paula“ frequently occurs in this fixe, evidently a police wireless address] Betr.: Vermißtenlage in LS.ort Dresden: Oberbürgermstr. der Stadt Dresden hat eingerichtet: A) eine Zentralstelle für Vermißte und 9 Verm.nachweise. B) 80 bis 100.000 Verm.anzeigen bis jetzt schätzungsweise eingegangen. C) 9720 Verm.anzeigen als Totmeldung erledigt. D) 20.000 Auskünfte über Vermißtenmeldung bis jetzt erstattet. E) Genaue statistische Angaben erst später möglich. Von Pol.präs. Dresden.“ Demnach waren von 20.000 Auskünften rund 10.000 „Totmeldungen“.

In der Schlußmeldung heißt es: „Unter den Gefallenen bisher etwa 100 Wehrmachtsangehörige festgestellt.“ Dieser Zahl widmet der Vorsitzende der Kommission, Rolf-Dieter Müller, besondere Aufmerksamkeit. Auf einer Texttafel der Kommissionsausstellung im Dresdner Rathaus 2007 heißt es: „Durch die Februar-Luftangriffe kamen zirka 100 Wehrmachtsangehörige ums Leben. Die diesbezüglichen Angaben konnten durch die Historikerkommission anhand der Unterlagen in der Wehrmachtsauskunftsstelle in der Größenordnung bestätigt werden.“

Der Leiter des Gräbernachweises teilte dem Autor mit: „Herr Prof. Dr. Rolf-Dieter Müller hat sich (...) an die Deutsche Dienststelle (WaSt) gewandt und mitgeteilt bekommen, daß die Aktenlage in unserem Hause keine Rückschlüsse auf die Zahl der Kriegssterbefälle von Wehrmachtsangehörigen für den genannten Ort und Zeitraum zuläßt.“ Müllers Angabe ist demnach gelogen. Dagegen weisen die „dokumentarischen Überlieferungen“ des Deutsche-Wehrmachtsführungsstabes vom 15. Februar aus: „Luftschutzbunker nahe der Grenadierkaserne getroffen, zahlreiche Soldaten gefallen.“ Die Schlußmeldung gibt an: „21 Reservelazarette total zerstört.“ Ohne Verluste? Sollten die Zahlen in der Schlußmeldung die tatsächlichen weit höheren Verluste gegenüber den Beamten verschleiern? Schließlich gingen diese Meldungen an das Wirtschafts-, Finanz- und Innenministerium. In den Originalen im Bundesarchiv sind intensive Bearbeitungshinweise enthalten.

Das ist noch nicht alles. Auf einem Workshop (Dresden 2006) sprach Müller über die „Rolle der Wehrmacht“. Er erwähnte Oberstlt. Eberhard Matthes, den 1. Offizier im Stabe des Dresdner Generalkommandos, der nach dem Krieg von der Bundeswehr übernommen wurde. In einem Bericht über die Dresdner Garnison 1945 an das Bundesarchiv teilte Matthes mit, in Dresden seien bis Ende April 253.000 Tote ermittelt worden. Der Autor hat darüber mit Matthes ausführlich gesprochen. Demnach hat Major Schwotzer aus dem Stab die Zahlen telefonisch ermittelt – ob er dabei Schätzungen und Bergungszahlen nicht unterschieden hat, ist im nachhinein nicht festzustellen. Die Stellungnahme von Matthes ist im Buch des Autors aufgeführt.

Dennoch befindet Müller in seinem Bericht: „So liegt der Schluß nahe, daß wir mit Matthes jenen dreisten Fälscher vor uns haben, der als erster den realen Zahlenkolonnen eine Null angehängt hat. Zumindest verstärkt sich der Verdacht, daß die höchsten Stellen der Wehrmacht – weil scheinbar glaubwürdig – in Dresden eine wichtige Gerüchteküche bildeten, womöglich Ausgangspunkt einer Verschwörung, die sich über das Kriegsende hinaus bis in die Gegenwart auswirkt.“ Sowjetische Quellen sprechen dagegen: Die je zehnbändigen Sowjetische Kriegsenzyklopädie und Weltgeschichte, von wissenschaftlichen Staatsverlagen der Sowjetunion herausgegeben, geben die Zahl der Angriffsopfer mit 120.000 und mit 135.000 Toten an. Sieht so eine „Verschwörung bis in die Gegenwart“ aus?

Selbst der Roman „Schlachthof 5“, in dem der ehemalige amerikanische Kriegsgefangene Kurt Vonnegut 1969 seine Erlebnisse im Februar 1945 in Dresden verarbeitete, wird zeitgerecht angepaßt. Der Rowohlt-Verlag merkt deshalb in der diesjährigen Neuauflage an: „So griff der Autor bei der Niederschrift unter anderem auf Quellen zurück, die heute nicht mehr zitierfähig wären und keinesfalls dem aktuellen Stand der historischen Forschung entsprechen. Dies gilt insbesondere für die Zahl der Opfer, die bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 ums Leben kamen: Vonnegut und seine Zeitgenossen gingen damals von 135.000 Toten aus.“

Die Kommission übernimmt aus der Schlußmeldung auf dem Altmarkt 8.685 verbrannte Leichen. Diese exakte Zahl hätte Anlaß zur Prüfung geben können. Manfred Böttcher (Dresden) hat die Bilder vergrößert: Auf den Scheiterhaufen liegen Tote mit verschiedenen Schmuckstücken. Beamte identifizierten ausgelegte Leichen. Selbstverständlich nahmen sie ihnen solche Erkennungsmerkmale ab. Demnach wurde ein Teil der Toten ohne Sichtung direkt auf die Brandstätten geschichtet. Zwei Einheiten waren auf dem Altmarkt eingesetzt: das Bataillon Streibl, freiwillige Litauer und Ukrainer, und die Angehörigen der Polizeischule Hellerau. Die letzteren legten die Toten für die Kripo zur Erkennung aus, soweit diese die Aufgabe bewältigen konnte. Die übrigen kamen unmittelbar auf den Scheiterhaufen. Das legt die Prüfung der Fotoaufnahmen nahe.

Ebenso gibt die Menge der Asche am fünften Tag nach Beginn der Verbrennungen Hinweise. Berichte von Zeugen über weit höhere Zahlen der Eingeäscherten sind in der Zapf-Sammlung des Dresdner Stadtarchivs enthalten. Darunter Bambi Gimmel, der als Gefreiter am Altmarkt zur Bergung eingesetzt war und später nach Geschichtsstudium Leiter der Gedenkstätte für die Opfer politischer Strafjustiz in Dresden war.

Eine vorurteilsfreie Debatte ist nun noch schwieriger

Thomas Widera und Peter Teichmann kommen zu dem Ergebnis, die Brandtemperaturen hätten im allgemeinen nicht ausgereicht, Leichen rückstandslos zu verbrennen. Den unsinnigen Begriff „rückstandslos“ beiseite gelassen: Die Kremierungstemperatur menschlicher Körper, also ihre Veraschung, liegt bei 800 Grad Celsius. Ist diese Temperatur tatsächlich nur ausnahmsweise erreicht worden?

Der Dresdner Grafiker und Architekt Einhart Grotegut fand bei der Begehung Dresdner Tiefbaustellen und im vergangenem Jahr im Bereich der Erdarbeiten an der Altstädter Brückenrampe, welche die Trümmerdeponie an der Elbe schneidet, mehr als hundert Schmelzen verschiedener Materialien: Kupfer (1.083 Grad Celsius), Flaschenglas (1.100 Grad Celsius), Porzellanverformung (2000 Grad Celsius) Glühbirnen (1.700 Grad Celsius) und Asphalt (300 Grad Celsius bis 400 Grad Celsius). Selbstverständlich sind bei archäologischen Grabungen in der Stadt solche Funde ebenfalls aufgetaucht, und das Stadtmuseum hatte schon vor 1989 eine Sammlung solcher Schmelzen. Ebenso haben Hamburg und Pforzheim Schmelzen aus den Feuersturmgebieten archiviert. Grotegut stellte im Februar des Jahres im Frauenkirchen-Informationszentrum seine Sammlung aus. Wie viele Angriffsopfer diesen Temperaturen ausgesetzt gewesen sind, weiß niemand. Doch zu vernachlässigen ist ihre Zahl nicht.

In Hamburg schätzten Ärzte in Kellern mit Aschleichen die Zahl der Toten (Bericht des Hamburger Polizeipräsidenten 1943). Damals wurden Kohlen in den Kellern gelagert. Wo sie in Brand gerieten, entwickelten sie Gase und hohe Temperaturen. Im Buch des Autors ist die Mitteilung eines Leichenbergungs-Truppleiters an das 12. Polizeirevier vom 5. Oktober 1945 wiedergegeben: „Hinzu kommen die zahlreichen Skeletteile und Leichenteile in verkohltem Zustand, die in den stets bei den Ausgrabungen vorgefundenen Brandherden zu Tage gefördert werden. Diese Fälle sind sämtlich nicht zu registrieren.“ Der Behauptung, Temperaturen über 800 Grad Celsius seien allenfalls ausnahmsweise aufgetreten, widerspricht die „Kraft der Fakten“ (Widera).

Obwohl Friedrich Reichert 2006 in einem Vortrag den Nordfriedhof anführt, ist er weder im Bericht noch in den Ergebnisdokumenten erwähnt. Dem Nordfriedhof (bis 1946 Garnisonsfriedhof) wurde während des Krieges eine anliegende Sandgrube zugeordnet. Dort waren in Einzel- und Sammelgräbern nach den Angriffen 446 Angehörige der Wehrmacht, der Polizei und der Feuerschutzpolizei sowie 61 zum Teil bekannte zivile Tote beerdigt. 1951 sind diese Toten aufgrund einer Verfügung der damaligen Landesregierung Sachsen in ein Sammelgrab auf den Nordfriedhof rechts oberhalb der Kapelle umgebettet worden. Ein Gedenkstein ohne Zahl und Jahresangabe bezeichnet die Stelle. Auch Ukrainer gehörten freiwillig der Dresdner Feuerschutzpolizei an. Wie viele von ihnen während oder in Folge der Einsätze ums Leben kamen, konnte der Autor nicht aufklären. Die Stadt Dresden hat diesen Männern, die im Einsatz ihr Leben verloren, bisher kein Wort des Gedenkens gewidmet.

Ob zukünftig die Zahl der Dresdner Angriffsopfer oder deren Schätzung einer Aussprache offenbleibt, wie die Oberbürgermeisterin andeutet, muß nach gleichlautenden Medienberichten bezweifelt werden. Wie ein Diskurs künftig aussehen wird, deutete Günther Heydemann (Hannah-Arendt-Institut) in seinem Vortrag zur Vorstellung der Kommissionsergebnisse am 17. März 2010 im Dresdner Rathaus bereits an: „Wer nun die zweifelsfrei ermittelte Zahl von Luftkriegstoten von bis zu 25.000 Opfern noch immer anzweifelt oder nicht wahrhaben will, ist entweder unbelehrbar, unseriös oder verfolgt andere Zwecke.“

 

Dr.  Wolfgang Schaarschmidt ist Verfasser des Buches „Dresden 1945, Daten–Fakten–Opfer“, Graz 2009 (JF 7/10)

Foto: Der zerstörte Hauptbahnhof nach den alliierten Bombenangriffen vom 13. und 14. Februar 1945 auf Dresden: Weder ist dargelegt, ob tatsächlich alle Unterlagen erhalten geblieben sind, noch überzeugt die Behauptung, nahezu alle Opfer der Luftangriffe seien geborgen worden

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