© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/10 30. April 2010

Deutschland als Schicksal
„So nenne endlich mir das Land!“
von Baal Müller

Was ist des Deutschen Vaterland?“ ist eine Frage, von der man sagen möchte, daß sie durch ihre Formulierung beinahe schon beantwortet wird: Deutschland ist da, wo man ständig über seine eigene Identität nachdenkt, immer wieder neue Kriterien anbietet – Eßgewohnheiten und Sekundärtugenden, historische Grenzen oder alte Bücher, deren Inhalte zeitweise als nationale Mythen gelten – und doch nie ganz damit zufrieden ist. Vielleicht handelt es sich um eine Luxus- und Friedensfrage, auf die sich im Kriegsfall leichte – oft freilich, wie bei Ernst Moritz Arndt, etwas zu leichte – Antworten ergeben („wo jeder Franzmann heißet Feind, wo jeder Teutsche heißet Freund“), aber „luxuriöse“ Fragen sind nicht per se unsinnig, und in gewisser Weise sind Geist und Kultur überhaupt Luxus.

Ein von Carl Schmitt nahegelegter Dezisionismus mit seiner methodischen Entgegensetzung von Freund und Feind, Eigenem und Fremdem, Bündnis und Bedrohung kann uns aber, ungeachtet seiner martialischen Fixierungen und metaphysischen Detail-Verstrickungen, helfen, die Frage etwas von ihrer theoretischen Aufladung zu befreien; in erster Linie wird sie nämlich – nicht nur im Krieg, sondern zum Beispiel auch im Urlaub, wo man deutsche Touristen nicht nur an ihrer Verkleidung erkennt – gefühlsmäßig beantwortet.

Bevor wieder einmal alle möglichen Eigenschaften aufgezählt werden, was angeblich alles typisch deutsch sei, sollte so etwas wie ein methodischer Rahmen oder „Fragehorizont“ festgestellt werden. Erstens: Ob jemand für andere ein Deutscher ist, sich selbst so wahrnimmt oder irgendein kulturelles Phänomen für besonders deutsch hält, ist im wesentlichen eine emotionale und keine intellektuelle Angelegenheit.

Zweitens ist es sinnvoll, bei dieser Zuschreibung zu versuchen, zeitweise eine Außenperspektive einzunehmen: In vielen – und selbst von noch so kleinen Völkern gesprochenen – Sprachen ist die Selbstbezeichnung des jeweiligen Volksstammes mit dem Begriff für „Mensch“ überhaupt identisch, das heißt Menschen und Stammesmitglieder werden kaum unterschieden, wo die Außenperspektive fehlt. Wie die Griechen ihre Identität erst in Auseinandersetzung mit den „Barbaren“, insbesondere mit den Persern, ausbildeten, so wurden die Germanen zu solchen erst durch die Römer.

Und drittens können nationale Identitäten, anders als etwa religiöse, denen bestimmte Initiationen (Taufen, rituelle Bekenntnisakte und ähnliches) zugrunde liegen, weder anhand isolierter Kriterien, etwa der formalen Staatsangehörigkeit, festgelegt noch gar aus irgendwelchen Prämissen „a priori“ abgeleitet werden, wozu man gerade in Deutschland, aufgrund der idealistischen Tradition der deutschen Philosophie, eine gewisse Neigung hat.

„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Vielleicht handelt es sich um eine Luxus- und Friedensfrage, auf die sich im Kriegsfall leichte Antworten ergeben, aber „luxuriöse“ Fragen sind nicht per se unsinnig, und in gewisser Weise sind Geist und Kultur überhaupt Luxus.

Auch wenn die Nation keine große Familie darstellt, ist es doch im Wittgensteinschen Sinne die „Familienähnlichkeit“, vor deren Hintergrund gewisse, von Individuum zu Individuum und von Situation zu Situation variierende, Eigenschaften herangezogen werden und als Teile für das Ganze stehen. Dieses bildet gleichsam einen Teppich mit nicht klar abgegrenztem, also ziemlich „ausgefranstem“ oder eher noch mit anderen Rändern lose und unordentlich verknüpftem Rand, in dem außerdem kein Muster identisch wiederkehrt und doch die meisten Muster einander in irgendeiner Hinsicht ähnlicher sind als denen in anderen Teppichen. Die Sprache und einige weitere besonders wichtige „Kulturtechniken“ sind solche Muster, die aber selbst auch wieder solchen Teppichen gleichen, denn schließlich sprechen keine zwei natürlichen Sprecher genau dieselbe Sprache.

Der Rekurs auf Mythen, „Bilderwelten“ – gemeinsame Symbole und Mythen –, „große Erzählungen“ und schicksalsbestimmte Verbundenheit, wie ihn Larsen Kempf vorgeschlagen hat (JF 13/10), führt sicher weiter als die rein technokratisch-administrativen Bestimmungen, die vom politischen Establishment allenfalls noch anerkannt werden, sofern man nicht, etwa durch die Forderung nach doppelten – oder auch drei- oder vierfachen Staatsbürgerschaften – deren weiteren Abbau betreibt. Nebenbei bemerkt, zeigt sich hier recht deutlich, warum staatspolitische Bestimmungen grundsätzlich von kulturellen Zuschreibungen zu trennen sind: Tatsächlich ist die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen heute ein kulturelles Pluriversum, und doch kann die – eine eindeutige Zumessung von Rechten und insbesondere auch von Pflichten verlangende – staatspolitische Identität nicht auf einer variablen, sich biographisch verschiebenden „Textur“ von Selbst- und Fremdbildern beruhen sowie daraus abgeleiteten Ansprüchen auf Selbstverwirklichung – also auf dem „Teppich ohne Ränder“.

Den Bildern, kollektiven Erinnerungen und Erzählungen kommt ihre Wirkmächtigkeit indes nur dann zu, wenn sie, worauf Frank Lisson hingewiesen hat (JF 15/10), auch in der jeweiligen Lebenswelt verankert sind. Sie müssen „wirklich“ sein, das heißt emotional unmittelbar auf Betrachter oder Hörer wirken; und zu dieser spezifischen Wirkung gehört, wie Lisson anderenorts hervorhob, ein eigentümliches Zusammenspiel von Nähe und Ferne: Die Mythen und Symbole müssen uns so nah sein, daß wir sie als die unseren erleben, daß sie Ausdruck unserer Realität sind, und sie müssen doch aus weiter – zeitlicher – Ferne kommen, das Gepräge eines Ursprungs tragen.

Die meisten Symbole und gemeinsamen Erzählungen heutiger Staatlichkeit oder deutscher Befindlichkeit haben einen zu administrativen oder rein ökonomischen Charakter (Nationalflagge, Bundesadler, D-Mark und Wiederaufbau), sind uns noch zu nah, um „mythisch“ zu wirken (Mauerfall und Wiedervereinigung), waren generell a- oder antinational (Studenten-, Friedens-, Frauen-, Umweltbewegung) ausgerichtet, transportieren partiell (gescheiterter Widerstand gegen Hitler) oder ausschließlich (Holocaust) negative Inhalte, beschränken sich auf Milieus und Schichten, die noch über eine gewisse historische Bildung verfügen beziehungsweise sind bereits zu weit hinter die Epochenschwelle von 1945 entrückt, die ja auch eine Bildungsschwelle ist, um noch eine intensive Wirkung entfalten zu können.

Und wie bei allen im weitesten Sinne künstlerischen Erzeugnissen verhält es sich auch bei Mythen so, daß man sie nicht per Handzeichen bestellen oder durch eine Art Propaganda herstellen kann. Eines ihrer wesentlichen Merkmale besteht ja gerade darin, daß Kultur hier zu Natur wird, daß sie einen „organischen“, „natürlich gewachsenen“ Charakter annimmt – „Kunst“ darf nicht allzu „künstlich“ wirken; und der seltene Ausnahmefall Preußens erscheint vielleicht erst nach seinem Untergang als „organische Konstruktion“ (Ernst Jünger), in der solches möglich war.

Es ist daher nicht zu erwarten, daß die Schlacht im Teutoburger Wald wieder zu einem nationalen Mythos wird (wenn sie denn je einer gewesen ist), und dies auch dann nicht, wenn sich ein erfolgreicher Filmregisseur dieses zweifellos Hollywood-tauglichen Stoffes annähme. Wenn überhaupt, müßte es ein gebrochener Anti-Held sein, der unsere heutige deutsche Empfindungswelt symbolisch zum Ausdruck bringen könnte; und dies wäre ganz sicher kein Brad Pitt oder Russell Crowe in Germanenkutte. Noch ein neuer Film über so „unpopuläre“, fast schulbuchmäßige Gestalten wie Sophie Scholl oder Stauffenberg dürfte das Publikum aber allmählich langweilen, und wen sollte gar eine verfilmte Hölderlin-, Kleist- oder Nietzsche-Biographie erreichen?

Mythen können also nicht befohlen werden, und Propaganda-Mythen verschwinden mit ihren Urhebern in den Geschichtsbüchern. Trotzdem ist ein „Aufbruch“, wie Larsen Kempf hofft, „immer möglich“, auch wenn er derzeit noch recht unwahrscheinlich ist. Unsere Lebenswelt ändert sich mit ungeheurer Geschwindigkeit, und die Art und Weise, wie wir vielleicht schon in zwanzig Jahren leben werden, können wir uns derzeit noch kaum vorstellen. Eine Neugeburt der deutschen Nation aus dem Geist von 1914 oder 1989, der Nibelungentreue oder Goethes „Faust“ steht in nächster Zeit jedenfalls nicht auf der Tagesordnung.

Wer heute nach nationaler Identität fragt, tut gut daran, historisch nicht zu weit auszuholen und statt dessen konkrete Fragen des Zusammenlebens und deren politisch-juristische Ausformulierungen in den Blick zu nehmen, wenn er wahrgenommen werden will.

Dämpft man seine Erwartungen aber etwas, ist immerhin zweierlei denkbar: Zum einen könnten die wachsenden – insbesondere wirtschaftlichen und demographischen – Probleme innerhalb der EU zu einer pragmatischen, vernunftgeleiteten Rückbesinnung auf einige Vorteile des Nationalstaats führen und das Prinzip, daß Menschen mit gleicher Sprache und ähnlicher Kultur in einem begrenzten Territorium zusammenleben, sich als Volk definieren und als solches bestimmte demokratische Rechte ausüben, nicht mehr so überholt und für alles Schädliche verantwortlich erscheinen lassen, wie es heute noch bei weiten Teilen des politischen und medialen Establishment zum guten Ton gehört.

Davon bleibt natürlich unbenommen, daß eine Nation wie gesagt weder eine große Familie noch ein Religionsersatz, sondern eine abstrakte und sehr irdische Kategorie darstellt, daß alle Nationen in globalem Zusammenhang und Austausch stehen und sich der „deutsche Weltberuf“ (Paul Natorp) selbst mit der Behauptung einer Stellung als europäische Regionalmacht immer übernommen hat.

Und zum anderen gibt es bereits Anzeichen dafür, daß ethnische Zugehörigkeiten, die sich freilich oft mit religiösen vermengen oder überschneiden, in nächster Zukunft eine neue Bedeutung erlangen könnten. Auch diese Wiederbesinnung dürfte sich weniger an Hermann dem Cherusker, sondern eher an Özlem der Kopftuchträgerin orientieren oder damit zu tun haben, daß Kevin der Currywurst-Esser weiterhin nicht auf Schweinefleisch verzichten möchte; und manche Einschätzungen, wer „Wir“ und wer „die Anderen“ sind, werden sich nicht mehr von traditionellen Bestimmungen von „Volk“ und „Volkheit“ leiten lassen.

Wer heute nach nationaler Identität fragt, tut gut daran, historisch nicht zu weit auszuholen und statt dessen konkrete Fragen des Zusammenlebens und deren politisch-juristische Ausformulierungen in den Blick zu nehmen, wenn er wahrgenommen werden will. Zwar wird es immer „Traditionskompanien“ (Erich Bräunlich) geben, die eine elitär-exklusive kulturelle Identität weitertragen, aber damit deren Samen gedeihen können, bedarf es des Humus der Lebenswelt, in der weder Stauffenberg noch Auschwitz noch Hagen von Tronje eine Rolle spielen.

Und wenn der national interessierte Konservative einen gewissen Zuspruch finden möchte, für den es durchaus ein wachsendes Potential gibt, dann muß er davon absehen, das Lebensgefühl seiner eigenen kleinen Minderheit zum Maßstab zu erklären.

Am Erhalt eines freiheitlich-demokratischen Nationalstaates haben nicht nur Burschenschafter und Moeller-van-den-Bruck-Leser, sondern womöglich auch alleinerziehende Mütter, vietnamesische Imbißverkäufer, Homosexuelle, ja vielleicht sogar Feministinnen, Gender-Desorientierte, Gangsta-Rapper und Antifa-Jugendliche ein Interesse, auch wenn ihnen dies derzeit nicht bewußt ist. Es könnte ihnen aber eines Tages schmerzlich bewußt werden; und damit es dann einen Nationalstaat gibt, der ihre Rechte schützt und dauerhaft sichert (ohne daß deshalb jede Lebensform gleichermaßen förderlich für das Gemeinwesen wäre), dürfen dessen Verteidiger heute – in trotziger Verinnerlichung ihrer derzeitigen Minderheitenposition – ihre geistigen Grenzen nicht zu eng ziehen.

 

Dr. Baal Müller ist Philosoph, freier Schriftsteller und Inhaber des Telesma-Verlags. Seine jüngste Veröffentlichung „Der Vorsprung der Besiegten. Identität nach der Niederlage“ erschien in der Edition Antaios. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Fundamente des Gemeinwesens („Jetzt ist guter Rat teuer“, JF 40/09).

Wie steht es um unser Zusammengehörigkeitsgefühl als Volk? Kann uns der Begriff der Schicksalsgemeinschaft heute überhaupt noch etwas sagen? Wo stehen wir als Nation? Im vorliegenden dritten Beitrag der Artikelreihe auf dem Forum, die in lockerer Folge unser kollektives Schicksal als Nation beleuchtet, bezieht der Philosoph Baal Müller Stellung, indem er den von Frank Lisson eingeflochtenen Faden (JF 15/10) aufgreift und weiterspinnt.(JF)

Foto: Deutsche Currywurst aus Schweinefleisch: Manche Einschätzung davon, wer „Wir“ und wer „die Anderen“ sind, wird sich nicht mehr von traditionellen Bestimmungen von „Volk“ und „Volkheit“ leiten lassen, sondern wer in die Schweinswurst beißt und wer nicht.

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