© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Schöne Tage für die echten Flamen
Staatskrise in Belgien: Der Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde als ewiger Streitapfel zwischen Flamen und Wallonen
Mina Buts

König Albert II. von Belgien zögerte einige Tage, bevor er den Rücktritt des Ministerpräsidenten Yves Leterme annahm: Es war nicht das erste Mal, daß dieser an der Aufgabe scheiterte, eine belgische Regierung aus flämischen und wallonischen Parteien zu führen. Nur zwei Monate vor Übernahme der Ratspräsidentschaft steht das EU-Gründungsmitglied damit ohne handlungsfähige Regierung da.

Die Fronten im Sprachenstreit sind mehr als verhärtet

Während es in der Vergangenheit durch Neuwahlen jedesmal gelang, irgendeinen Kompromiß zu finden, sehen viele Belgier mit der neuen Krise das Ende ihres Staates eingeleitet: „Der echte Flame erlebt in diesen Tagen die schönste Periode in seinem Leben“, tönt denn auch der Journalist Tom Cochez in der flämischen Netzzeitung Apache.be.

Wie schon seit Jahrzehnten entzündet sich auch dieser Streit am Wahlrecht für den flämischen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (B-H-V). Während in ganz Belgien seit 1963 die Regierungsbezirke mit den Wahldistrikten übereinstimmen, somit also in Flandern nur flämische, in Wallonien nur wallonische Parteien gewählt werden können, ist der Bezirk Flämisch-Brabant zweigeteilt. Im westlichen Teil, der neben der Hauptstadt Brüssel auch die Randgemeinden um die Städte Halle und Vilvoorde umschließt, dürfen sowohl flämische als auch wallonische Parteien zur Wahl antreten, es ist auch das einzige zweisprachige Gebiet in Belgien.

Da die belgische Hauptstadt zwar wächst, ihre Stadtgrenzen aber nicht in flämisches Gebiet erweitern kann, sehen sich viele französischsprachige Belgier gezwungen, in den Speckgürtel um Brüssel zu ziehen. Dieser „verfranzt“ also, wie es in Flandern heißt, immer mehr. Mittlerweile ist die Französisierung so weit fortgeschritten, daß es in drei Gemeinden bereits wallonische Bürgermeister geben sollte – wenn diese nicht bis heute wegen der flämischen Proteste auf ihre Ernennung warten würden. Die Flamen hingegen fürchten um ihre Identität und finden es unhaltbar, daß Wallonen in Flämisch-Brabant wallonische Parteien, Flamen in Wallonisch-Brabant aber keine flämischen wählen dürfen.

Die Fronten im Streit sind mehr als verhärtet: Im vergangenen Jahr hat das Verfassungsgericht entschieden, daß das Wahlrecht für B-H-V verfassungswidrig ist; vor den nächsten Parlamentswahlen müsse eine Lösung gefunden werden.

Nach dem Ausscheren der flämischen Liberalen (VLD) aus dem Regierungsbündnis und der Weigerung der flämischen Sozialisten, statt dessen in die Bresche zu springen, sind Neuwahlen im Juni unumgänglich, um vor dem 1. Juli, dem Beginn der EU-Ratspräsidentschaft, eine Regierung präsentieren zu können. Schon jetzt ist absehbar, daß das Wahlergebnis keinen Bestand haben wird, weil es – unabhängig von seinem Ausgang – für ungültig, da verfassungswidrig erklärt werden kann.

Die wallonischen Parlamentarier haben gerade noch ein wenig mehr Öl ins Feuer gegossen, indem sie die „Alarmbelprocedure“ in Gang setzten. Dieses Instrumentarium, 1970 bei Beginn der Föderalisierung geschaffen, soll verhindern, daß eine Sprachgruppe sich durch eine andere benachteiligt fühlt; Verhandlungen über ein brisantes Thema werden für 30 Tage ausgesetzt. Vor den Wahlen kann es also keine weiteren Beratungen zu B-H-V geben.

Wenn nun im Juni gewählt wird, wird sich der Trend, daß Flandern eher rechts, Wallonien hingegen eher links wählt, weiter fortsetzen. Mittlerweile gibt es drei flämische Rechtsparteien, die ein unabhängiges Flandern fordern. Neben dem Vlaams Belang die Lijst Dedecker und die N-VA (Nieuw-Vlaams Alliantie). Wobei die N-VA  – sicher nicht nur um der Wählergunst willen – sehr weit nach rechts gerückt ist. Doch auch den anderen flämischen Parteien dämmert, daß sie nur dann glaubwürdig sind, wenn sie künftig stärker ihre eigenen Interessen gegen die wallonischen vertreten.

Wenn nicht rasch eine praktikable Lösung für B-H-V gefunden wird, könnte dieses Thema vielleicht sogar noch den belgischen Staat überdauern.

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