© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Der Mann, der den Hexenton erfand
Dämonischer Ruhm: Johann Peter Hebel hat sich unsterblich in die Literaturgeschichte eingeschrieben
Günter Zehm

Der Vogel schwankt so tief und still,
er weiß nit, woner ane will.
Es chunnt so schwarz, und chunnt so schwer,
und in de Lüfte hangt e Meer
voll Dunst und Wetter. Los, wie’s schallt
am Blauen, und wie’s wiederhallt.
In große Wirble fliegt der Staub
zum Himmel uf, mit Halm und Laub,
und lueg mer dort sel Wülkli a!
I ha ke große G‘falle dra,

Aus: Johann Peter Hebel, „Das Gewitter“,  erste Strophe (1803)

Er kam von ganz unten. Sein Vater, gelernter Weber aus dem Hunsrück, war ein fahrender Handwerksbursch, der von Stadt zu Stadt zog, um bei wechselnden Meistern auszuhelfen und Gesellenreife zu erlangen. Hebel hat ihn nie kennengelernt, er starb schon 1761, als der kleine Johann Peter gerade ein Jahr alt war. Die Mutter Ursula stammte aus dem Dorf Hausen im südbadischen Wiesental. wo das Söhnchen  denn auch aufwuchs und zur Schule ging.

Geboren wurde Johann Peter Hebel allerdings vor zweihundertfünfzig Jahren, am 10. Mai 1760, in Basel in der Schweiz, wo der Vater für einige Monate einen Job bei einem reichen Tuchfabrikanten bekommen hatte. Basler Lokalpatrioten preisen Hebel als einen der größten Söhne ihrer Stadt und stellen ihn gleichberechtigt neben Zelebritäten wie Burckhardt, Böcklin, Bachofen. Hebel sei „der Meister der schwitzerdütschen Lyrik“ gewesen und folglich aus der Schweizer Literatur überhaupt nicht wegzudenken.

Das Schwitzerdütsch war freilich damals, zu Hebels Zeiten, nichts weiter als eine alemannische Mundart, einer ihrer zahlreichen Dialekte, die – auf deutscher wie auf Schweizer Seite – von Tal zu Tal variierten und eine schier unendliche Vielfalt lyrischer Möglichkeiten eröffneten. Hebel dichtete im Dialekt seines Wiesentals – aber wie er das tat, das rührte sofort an die Seelen, stärkte das alemannische Selbstbewußtsein über Grenzen hinweg gewaltig und machte auch außerhalb seriöse Sensation.

Goethe schrieb eine hymnische Rezension

Hebel war im Nu in aller Munde. Kein literarischer Kreis, ob in Berlin oder in Wien oder in der amerikanischen Diaspora, der sich nicht mit den 1801 erschienenen „Alemannischen Gedichten“ beschäftigte. Auflage folgte auf Auflage. Jean Paul jubelte, pries speziell das Gedicht „Das Gewitter“, dessen Bilder sich ihm unvergeßlich eingeprägt hätten. Auch der Geheimrat Goethe in Weimar gab seinen allerhöchsten Segen. Er war richtig begeistert und schrieb eine enthusiastische Rezension, in der er neben anderem die „glückliche Verbindung von Naivität und Anmut“ pries.

 Hebel habe, so Goethe in einem kühnen Bild, „das Universum verbauert“. Noch in den ländlichsten Szenen spiegle sich bei ihm das Weltganze, so wie sich in seinem Dialekt die Sprache an sich spiegle. Laut und Bedeutung würden geradezu eins, so daß es völlig überflüssig, ja geradezu verwerflich wäre, die Gedichte ins Hochdeutsche oder in irgend­eine andere verwandte Sprache übersetzen zu wollen. Man müsse nur wachen Ohrs auf sie lauschen, dann erschließe sich der Sinn von allein.

Den Autor, also Johann Peter Hebel, mögen solche Hymnen eher geniert haben. Er hatte die Gedichte „ganz im Nebenbei“ zu Papier geracht, nach einem seiner seltenen Besuche im heimatlichen Hausen. Die erste Auflage war anonym erschienen, weil Hebel glaubte, er könnte sich mit der Veröffentlichung negativ exponieren, könnte als eine Art Bauern-tölpel mißverstanden werden, der keine Ahnung von feineren Umgangsformen und hoher Literatur  habe. Dabei war er doch inzwischen längst hochmögender Staats- und Kirchenbeamter in Karlsruhe, vielbeschäftigter Gymnasialdirektor, Konsistorialrat, Hofprediger.

Alemannische Gedichte hat er später nie wieder geschrieben, statt dessen wurde er Verfasser von hochdeutschen Kalendergeschichten, und damit hatte es folgende Bewandtnis: Der traditionsreiche lutherisch-badische Landeskalender, Titel: „Rheinländischer Hausfreund“, geriet Ende des 18. Jahrhunderts in bedrohliche Absatzsschwierigkeiten, und eine amtliche Kommission unter Vorsitz Hebels trat zusammen und sann auf Abhilfe. Man beschloß, den Textteil mit „lehrreichen Nachrichten und lustigen Geschichten“ spektakulär auszuweiten. Und Hebel erklärte sich zu gelegentlicher Mitarbeit bereit.   

 Der Rest ist deutsche Literaturgeschichte. Hebels Beiträge machten noch größere Sensation als seine „Alemannischen Gedichte“. Sie entzückten und verzauberten nicht nur die bisherigen Abonnenten, biedere badische Kirchgänger, rheinische Flußschiffer und Schwarzwälder Holzfäller, sondern faktisch das ganze lesende Publikum in Deutschland und bald auch in Frankreich, Skandinavien und anderswo.

Ein Schatzkästlein, das man nicht aufbrechen kann

Gleich nach Erscheinen des jeweils neuesten „Hausfreunds“ las zum Beispiel Ludwig Tieck im Berliner Salon der Madam Herz daraus vor – und rührte alle zu Tränen. Dabei handelte es sich durchweg um volkstümliche, populäre Schwänke und Anekdoten, auch bereits weitverbreitete Mitteilungen aus Tageszeitungen, untermischt mit Anleitungen für den praktischen Haushalt, manchmal im Märchenton erzählt und mit einer handfesten „Moral“ am Ende, die auf Gottesfürchtigkeit und bürgerlichen Anstand hinauslief. Wahrhaftig nichts Besonderes, sollte man meinen. Und Hebels Stil war ganz schlicht, jeder konnte ihn mühelos verstehen.

Aber in der wahren Schlichtheit wohnt der Dämon der Tiefe. Hebels Geschichten boten wundersame Klarheit und abgründiges Rätsel in einem. Ganze Legionen von Germanisten haben sich inzwischen um adäquate Auslegung dieses „Hexentons“ bemüht – vergeblich. Selbst die größten Bewunderer und Interpretatoren, Leo Tolstoi etwa oder Gottfried Keller, Martin Heidegger oder Robert Minder, Ernst Krieck oder Ernst Bloch: Sie  konnten das Geheimnis,  das in diesen Geschichten wohnt, immer nur in weitem Bogen umkreisen, von welchem Standpunkt aus sie sich ihm auch anzunähern suchten. Der „Rheinische Hausfreund“ war eben tatsächlich jenes „Schatzkästlein“, zu dem man die Geschichten alsbald versammelte. Es ließ sich nur hüten, nie aufbrechen.

Johann Peter Hebel ist, zumindest im deutschsprachigen Raum, geradezu der Inbegriff dessen, was Umberto Eco lapidar „die poetische Wirkung“ nennt, nämlich „die Fähigkeit von Texten, immer neue und andere Lesearten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen“.

Der Dichter selbst hat den ihm zuwachsenden dämonischen Ruhm durchaus noch miterlebt (er starb 1826 während einer Dienstreise in Schwetzingen), doch er hat sich nie dazu geäußert, nie von sich aus irgendwelche Auskünfte gegeben. Wahrscheinlich hat er das Ganze als eine Art Gewitter empfunden, das bald vorübergehen werde. Die letzte Strophe in seinem alemannischen Gewittergedicht geht aber so:

Potz tausig, ’s Chind isch au verwacht,
Lueg, was es für e Schnüfli macht!
Es lächlet, es weiß nüt dervo.
Siehsch, Friderli, wie’s ussieht do? –
Der Schelm het no si G’falle dra.
Gang, richt em eis si Päppli a! –

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