© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Flaue Wechselstimmung
Großbritannien: Trotz hoher Mandatsgewinne können Camerons Tories nicht allein regieren / Auch Labour buhlt um die Liberalen
Derek Turner

Die britischen Parlamentswahlen vom 6. Mai zählten zu den spannendsten der letzten Jahrzehnte. Gekämpft wurde um 649 Sitze im Unterhaus, 4.222 Mandate in 164 englischen Stadt- und Gemeinderäten und vier Bürgermeisterämter im Großraum London. Viele Parlamentssitze müssen neu besetzt werden, da die amtierenden Abgeordneten auf eine Kandidatur verzichteten. Zudem sind seit den letzten Wahlen 2005 einige Wahlkreise neu gezogen worden. Im nordostenglischen Wahlkreis Thirsk & Malton muß die Stimmabgabe nach dem Tod des UKIP-Kandidaten John Boakes am 27. Mai nachgeholt werden – erst dann steht die Zusammensetzung des Unterhauses mit seinen in der kommenden Legislaturperiode insgesamt 650 Sitzen genau fest.

Zum ersten Mal hatten die Wähler diesmal Gelegenheit, sich bei drei  Fernsehdebatten ein Bild von den Spitzenkandidaten der drei aussichtsreichsten Parteien zu machen. Dabei sah es laut einiger Umfragen zunächst so aus, als habe Liberaldemokraten-Chef Nick Clegg die Zuschauer derart für sich einnehmen können, daß aus dem üblichen Zwei- sogar ein Drei-Parteien-Rennen würde (JF 18/10).

Am Ende kam – erstmals seit 1974 – ein Patt ohne klare Sieger heraus, da keine Partei die für eine Mehrheit notwendigen 325 Sitze erreichte. David Camerons Konservative Partei gewann mit 36,1 Prozent der Stimmen 306 von 649 zu vergebenden Sitze. Das waren zwar lediglich 3,8 Prozentpunkte mehr als 2005, aber dank des traditionellen einfachen Mehrheitswahlrechts in Direktwahlkreisen ergab sich ein Mandateplus von 97. Die Labour-Partei unter dem amtierenden Premierminister Gordon Brown erreichte mit 29 Prozent (minus 6,2 Prozentpunkte) 258 Sitze. Das sind 91 weniger als bisher, Browns Mehrheit ist damit gebrochen. Die Liberaldemokraten (LibDems) konnten mit einem Stimmenanteil von 23 Prozent (plus 1 Prozentpunkt) zwar etwas zulegen. Aber wegen der Tücken des Wahlrechts erhielten sie diesmal sogar nur 57 Sitze (minus 5), was nicht einmal 8,8 Prozent der Mandate entspricht. 11,9 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die Regionalparteien in Schottland, Wales und Nordirland sowie linke oder rechte Kleinparteien. Mehrere Spitzenpolitiker, darunter der Erste Minister von Nordirland, Peter Robinson, sowie zwei ehemalige Innenminister der Labour-Regierung verloren ihre Mandate.

Die landesweiten Einbußen für die regierende Labour-Partei fielen überraschend milde aus. Der verbale Ausrutscher, den Brown sich eine Woche vor der Wahl leistete, als er eine treue Labour-Anhängerin wegen ihrer kritischen Äußerungen über Einwanderer als „bigotte Frau“ bezeichnete, kostete ihn weniger Sympathien als erwartet. Den 26-Prozent-Vorsprung, den Umfrageergebnisse den Tories noch zu Jahresbeginn bescheinigten, konnte Labour bereits vor den Fernsehdebatten aufholen.

Auch an der Basis der größten Oppositionspartei hatte sich Unmut über Camerons Profillosigkeit bei Themen wie Staatsausgaben, Kriminalitätsbekämpfung, Europa-Politik, Verteidigung, Political Correctness oder Einwanderung breitgemacht. Insbesondere eine entschiedene Haltung in der Einwanderungsfrage hätte den Konservativen mit Sicherheit entscheidende Stimmenzuwächse verschafft. Statt dessen versuchte Cameron Wahlversprechen zur Einwanderungsbeschränkung mit dem Festhalten an der EU-Mitgliedschaft (die für 80 Prozent der Binnenmigration verantwortlich ist), der Befürwortung eines EU-Beitritts der Türkei sowie dem umstrittenen britischen Menschenrechtsgesetz unter einen Hut zu bringen.

Nun hängt alles von den LibDems ab. Nachdem Brown auf sein Recht als amtierender Premierminister verzichtete und Cameron den Vorrang bei den Koalitionsverhandlungen ließ, stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest, ob es wirklich zu einer tragfähigen Einigung zwischen Konservativen und LibDems kommt. Übereinstimmungen bestehen bei Themen wie Bildung, Steuersystem, Umweltpolitik oder der heiß umstrittenen Einführung einer Ausweispflicht. In vielen anderen Fragen, etwa der Reform des für kleinere Parteien nachteiligen Wahlrechts, einem Kernanliegen der LibDems, stehen sie eher der hier kompromißbereiten Labour-Partei nahe.

Trotz des medialen Aufsehens, das ihre Kandidaturen im Vorfeld erregten, scheiterte Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party (UKIP) in Buckingham ebenso wie Nick Griffin von der British National Party (BNP) im Londoner Wahlkreis Barking & Dagenham. Auch die zwölf Stadt- und Gemeinderatssitze, die die BNP in der vergangenen Legislaturperiode innehatte, gingen nach einem desaströsen Wahlkampf verloren. Als Trost bleibt der BNP immerhin die Verbesserung ihres landesweiten Stimmenanteils auf 1,9 Prozent. Die UKIP wurde mit 3,1 Prozent sogar viertstärkste Partei.

Wenn sich aus diesem Wahlergebnis überhaupt ein Schluß ziehen läßt, dann wohl der, daß das Land entlang zahlreicher komplexer Bruchlinien gespalten ist. Diese gesellschaftliche Fragmentierung dürfte sich in der voraussehbaren Zukunft eher verschlimmern. Ob die künftige Regierung, wie auch immer sie aussehen mag, lange durchhalten kann, scheint fraglich – erst recht angesichts der dringend notwendigen Haushaltskürzungen und damit verbundenen „Grausamkeiten“. Vielleicht sind die Zeiten von Mehrheitswahlrecht und „starken Regierungen“ endgültig vorbei – wenn man ihre Bilanz betrachtet, stellt sich in der Tat die Frage, ob das nicht sogar ein Anlaß zur Freude ist.

Foto: Tory-Chef David Cameron vor seinen Wählern in Westminster: Das Königreich ist entlang zahlreicher komplexer Bruchlinien geteilt; Britische Unterhauswahlen 2010

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