© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Merkel bei den Siegern
Rußland: In Moskau wurde der 65. Jahrestag des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ mit einer internationalen Militärparade gefeiert
Paul Leonhard

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi waren vorigen Sonntag nicht wie geplant in Moskau. Beide hatten angesichts der Euro-Krise Wichtigeres zu tun. Berlusconi hatte zudem am Samstagabend einen mehrstündigen Termin im Scheidungsverfahren von Noch-Ehefrau Veronica Lario zu absolvieren. US-Präsident Barack Obama hatte wegen angeblicher Terminschwierigkeiten abgesagt, auch der britische Premierminister Gordon Brown ließ sich entschuldigen. Bundeskanzlerin Angela Merkel entschied sich hingegen, der Euro-Katastrophe für einige Stunden zu entfliehen und in Moskau den „Tag der Befreiung für alle“ (Originalton Bundestagspräsident Norbert Lammert/CDU) zu feiern.

Der wird in Moskau aber traditionell nicht am 8., sondern am 9. Mai gefeiert. Und der Feiertag heißt auch nicht „Tag der Befreiung“ (wie in der DDR und inzwischen auch in der gesamtdeutschen Politik), sondern zutreffender „Tag des Sieges“. Denn erst am 9. Mai 1945 kurz nach Mitternacht wurde die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst vom Oberkommando der Wehrmacht sowie den Oberbefehlshabern von Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine unterzeichnet.

Das 65jährige Jubiläum des Sieges der Roten Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“ wurde in diesem Jahr besonders pompös gefeiert. Bei der traditionellen Militärparade marschierten erstmals neben etwa 10.000 russischen Soldaten auch Militärangehörige aus den Nato-Staaten Frankreich, Großbritannien, Polen und den USA. Hinzu kamen Einheiten aus den Nachfolgestaaten der 1991 aufgelösten Sowjetunion. Aus den drei baltischen Staaten und Georgien durften keine Soldaten mitmarschieren, auch Moldawien war nicht vertreten.

Die Einladung des russischen Premier Wladimir Putin wurde speziell in Polen mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Denn welche Veteranen sollte man schicken? Die der einst Stalin-hörigen Armia Ludowa (AL/Volksarmee) oder die der im Untergrund kämpfenden Armia Krajowa (AK/Heimatarmee), die den Befehlen der polnischen Exilregierung in London gehorchte? Angehörige der prosowjetischen Kościuszko-Division würden in Moskau bestimmt gern gesehen, vielleicht auch noch die Angehörigen der vor allem aus Kriegsgefangenen gebildeten Armee General Władysław Anders, die an der Seite der westlichen Alliierten in Afrika und Westeuropa stritt. Aber was ist mit jenen, die sich erst in der AK in Ostpolen einen gnadenlosen Kampf mit weißrussischen „Kollaborateuren“, kommunistischen Partisanen und sowjetischen Fallschirmspringer lieferten und erst später in die AL gepreßt wurden? Überdies ist Polen am 9. Mai 1945 nicht „befreit“ worden, denn das Land wurde von der Sowjet­union besetzt. Ein Unterdrücker hatte lediglich den anderen abgelöst.

Die Offiziere und Soldaten der AK wurden, sobald die Rote Armee ein Gebiet besetzt hatte, entwaffnet und oft vom Sowjetgeheimdienst NKWD verhaftet. Vor den Toren Warschaus schaute das sowjetische Militär auf Geheiß Stalins tatenlos zu, wie der Aufstand der prowestlichen AK ausblutete. Ein Wiederentstehen einer bürgerlichen Republik Polen sollte um jeden Preis verhindert werden. „Sie befreien uns für die nächsten fünfzig Jahre“, hatte der polnische Schriftsteller Andrzej Bobkowski über das kommende Schicksal eines von Stalins Truppen befreiten Polen im September 1943 ahnungsvoll notiert.

Am Sonntag nahmen schließlich 75 junge polnische Soldaten an der Moskauer Parade teil. Sie durften sogar direkt hinter den Formationen der ehemaligen Sowjetrepubliken marschieren, was aus russischer Sicht eine besondere Auszeichnung darstellt. Die polnische Delegation wurde vom kommissarischen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski angeführt. Zu ihr gehörten auch Weltkriegsveteranen, darunter der letzte Präsident der Volksrepublik Polen, Wojciech Jaruzelski. Grund dafür war aber nicht seine Rolle bei der Verhängung des Kriegsrechts 1981 und der Niederschlagung der Solidarność-Bewegung: Jaruzelski gehörte zur Armia Polska w ZSRR, der Polnischen Armee in der UdSSR, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Roten Armee kämpfte.

In Deutschland stand die Teilnahme der Kanzlerin hingegen nie zur Diskussion. Immerhin blieb ihr die Peinlichkeit erspart, vor riesigen Stalin-Plakaten abgelichtet zu werden: Auf Anordnung des Kreml wurden die Porträts des Sowjetdiktators aus den Straßen verbannt. Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow nämlich hatte auf Wunsch von Kriegsveteranen – wie in anderen russischen Städten auch – Stalin als „Kriegshelden, Generalissimus und Oberbefehlshaber“ würdigen lassen. Die russischen Kommunisten – die größte Oppositionspartei des Landes – ließen sich davon jedoch nicht beirren. Nach der Parade demonstrierten sie nicht nur gegen die Teilnahme westlicher Soldaten, sondern sie ließen auch lautstark den Ruf vernehmen: „Ruhm dem großen Stalin!“

Foto: Medwedjew, Chinas Präsident Hu Jintao, Merkel, Putin: Berlusconi, Obama und Sarkozy fehlten

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen