© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Pankraz,
D. Everett und das Glück am Amazonas

Der Eklat war da. Noam Chomsky, der hochangesehene Linguist und Schöpfer der sogenannten generativen Grammatik, verließ wütend das Podium. Er hatte die Nase vom „sinnlosen Gerede“ seines Diskussionspartners und Fachkollegen, des Antigrammatikers Daniel Everett, gründlich voll. „Sie sind kein Wissenschaftler, sondern ein Scharlatan“, rief er ihm zornig zu.

Das ist nun schon einige Jahre her, doch die gegenseitige Antipathie blieb bis heute erhalten. Chomsky lehnt es rundweg ab, sich überhaupt noch über Everett zu äußern. Für dessen monumentales Buch „Don’t Sleep, There are Snakes“ („Achtung, Schlangen!“) von 2008 hat er nur ein verächtliches Achselzucken, ganz im Gegensatz zu den hiesigen Rezensenten, die sich vor Begeisterung über die soeben bei der DVA in München erschienene deutsche Fassung geradezu überschlagen.

Sie trägt den melodramatischen Titel „Das glücklichste Volk der Welt“ und entpuppt sich als eine merkwürdige Mischung aus Reisebericht, Bekenntnispredigt und linguistischem Feldforschungsprotokoll. Der Verfasser, Daniel Everett (59), begann als baptistischer Laienprediger, der sich eines Tages in den Kopf setzte, die Pirahãs, einen kleinen, nicht mehr als 400 Köpfe zählenden Indianerstamm im Urwald Amazoniens, zu missionieren und zum christlichen Glauben zu bekehren. Davon handelt das Buch.

Sein Clou besteht darin, daß am Ende nicht die Pirahãs zum Christentum bekehrt werden, sondern Everett, der christliche Missionar, zum „Atheismus“, wie er es nennt, nämlich zum Lebensstil der Pirahãs, die angeblich an gar nichts glauben, sondern einfach so vor sich hinleben und dabei so glücklich, so wunschlos und einverstanden mit der Welt sind, daß man es kaum fassen kann. Everett wurde also zum Pirahã, blieb aber nicht beim Stamm, sondern kehrte nach sieben Jahren in die Zivilisation zurück, um künftig vom glücklichen Atheismus seiner neuen Stammesbrüder Kunde zu geben und besonders ihre Sprache zu loben.

Er wechselte von der Theologie zur Linguistik und redet seitdem fast nur noch von der Sprache der Pirahãs, über die er Erstaunliches zu berichten weiß. Das Gros seiner linguistischen Kollegen mit Chomsky an der Spitze mißtraut ihm und möchte ihn gern widerlegen, was aber faktisch unmöglich ist, da es in der Zunft gänzlich an empirischen Unterlagen mangelt. Everett ist der bisher einzige, der die Sprache der Pirahãs gelernt hat. Alles, was er sagt, kann vorläufig nur er selbst verstehen.

Nach seiner Auskunft ist die Pirahã-Sprache völlig grammatiklos, erinnerungslos. Es gibt in ihr kein Gestern und kein Morgen, mit jedem neuen Tag entsteht die Welt neu und verschwindet am Abend wieder, und selbst das wissen die Pirahãs nicht, sondern nehmen es einfach hin. Es gibt in ihrer Sprache weder Werden noch Vergehen, sondern etwas ist eben da oder nicht da. Es gibt weder Quantitäten noch Qualitäten, weder Zahlen noch Farben, weder Feinde noch Freunde, derer man sich erinnert.

Wohlgemerkt, das muß nicht wirklich so sein, sondern das ist die Behauptung des Ex-Missionars und Ex-Evangelikalen Daniel Everett. Hätte er recht, so würde bei den Pirahãs nicht das Mindeste je gelernt werden, immer nur wieder neu entdeckt. Du tust mir weh, also bist du mein Feind, egal, ob du mir „gestern“ Gutes getan hast. Ich erinnere mich ja gar nicht an irgendein „Gestern“, ich kenne es nicht. Jedenfalls sagt mir meine Sprache nichts darüber; habe ich denn überhaupt eine „Sprache“?

Hätte Daniel Everett mit seinen Behauptungen recht, dann befänden sich die Pirahãs nicht nur jenseits jeglicher Grammatik, sondern auf einem Kommunikationsniveau, das noch weit unter dem der Tiere läge, wenigstens der höheren Tiere. Diese leben zwar tatsächlich (nach allem, was wir zu wissen glauben) in einem Stand der „Unschuld“, haben noch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen, nehmen vieles unbefragt hin und richten sich spontan danach. Ihrer Feinde jedoch wissen sie sich sehr gut zu erinnern, und sie können oft auch gut errechnen, wie viele es sind und ob sich ein Angriff bzw. eine Flucht lohnt oder nicht.

Mindestens bis drei zählen kann – das ist genau nachgewiesen – jede Nebelkrähe. Sie paßt auf, wie viele Menschen in die Jagdhütte hineingehen und wie viele wieder herauskommen, und erst wenn niemand mehr drin ist, wagt sie sich in die Nähe. Und sie kann ihr Zählen auch ohne weiteres sprachlich, lautlich an Artgenossen weitergeben, kann sie warnen: „Vorsicht! Drei Jäger sind in die Hütte hineingegangen, nur zwei sind wieder herausgegangen.“ Sollten simple Nebelkrähen tatsächlich bessere Rechner sein als ausgewachsene Exemplare der Gattung Homo sapiens im brasilianischen Urwald?

Pankraz findet solche Erwägungen schlicht absurd. Natürlich beherrscht auch er nicht die Pirahã-Sprache, aber er würde ohne Zögern sagen: Diese Sprache kann viel mehr, als der Linguist Everett während seines siebenjährigen Urwaldaufenthalts mitbekam. Sie ist, genau wie Noam Chomsky das für die menschlichen Sprachen insgesamt höchst einleuchtend dargelegt hat, in erster Linie eine „Struktur“, eine gewaltige Potenz, deren wahre Ausdehnung sich nur relativ selten in voller Pracht zeigt.

Üblicherweise redet man nur soviel, wie der jeweilige Gesprächspartner vertragen kann, und Everett konnte (oder wollte) am Amazonas nur wenig vertragen. Sein Buch riecht intensiv nach vorgefaßter Absicht. Offenbar soll da, in zeitgenössischer Aufmachung, wieder einmal die alte Mär vom edlen Wilden und seiner natürlichen Unschuld unter die Leute gebracht werden. Nicht nur nüchterne Linguisten, die ihr Fach von Scharlatanen freihalten wollen, sind darüber verstimmt.

Denn Erzählungen wie die von Everett waren bisher stets der Anfang vom Ende der jeweils gepriesenen Wilden. Alle möglichen Feldforscher kommen, dann Touristen, Würstchenbuden. Bald wird nichts mehr von den 400 Pirahãs und ihrer Sprache übrig sein.

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