© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

CD: Geräusche
Dynamisch
Dominik Tischleder

Der Franzose Jean Marc Vivenza ist heute in seinem Heimatland vor allem als Autor religionsphilosophischer Werke bekannt. In rascher Folge sind von ihm in den letzten Jahren Bücher über Joseph de Maistre, Jacob Böhme und den Traditionalisten René Guénon erschienen.

Dabei scheint es etwas entrückt zu sein, daß Vivenza eigentlich zuerst als Avantgarde-Komponist aufhorchen ließ. Ende der Siebziger gehörte er zu den Pionieren einer besonders puristischen Form von industrieller Geräuschmusik, mit der er sich paßgenau zwischen sämtliche Stühle zwängte: moderne „akademische“ E-Musik einerseits, aber auch Konzerte im Umfeld der sich konstituierenden Industrial-Subkultur andererseits. Gleichzeitig  unterstrich er mit einem eigenen, sich stark an den italienischen Futurismus anlehnenden Mitteilungsorgan seinen auch musiktheoretischen Anspruch.

Vivenza galt seinen Hörern immer als irgendwie mysteriös und unnahbar. Als er dann zu Beginn der Neunziger sich auch noch bei Synergon Europa (einer belgischen Neue-Rechte-Initiative) zu engagieren begann, kam unweigerlich das Verdikt „gefährlich“ hinzu. Als wichtigsten Bezugspunkt seiner „bruitistischen“  (von dem französischen Wort bruit für Lärm) Geräuschmusik hat Vivenza immer wieder Luigi Russolos bekannte futuristische Geräuschkunst-Manifeste um 1913 herausgestellt.

Und tatsächlich, der „Futurismus“ ist für Vivenzas Klangexperimente nicht bloß eine vage und nur tendenziell richtige Zuschreibung. Nein, der Künstler intendierte offenbar eine auch konzeptionell affirmative Anbindung an diese Strömung, und zwar inbegriffen all der vitalistisch-kriegerischen Auffassungen, die den Futurismus so spektakulär machten. Vivenza wollte ein direkter Nachfolger Russolos und Marinettis, gleichsam der letzte Futurist rund fünfzig Jahre nach dessen Ende sein, und so darf man sein kompositorisches Werk auch einordnen.

Gesucht wird eine „konkrete“ unmittelbare Klangerfahrung, und als Mittel der Klangerzeugung dient ihm die Welt der Maschinen, egal ob ohrenbetäubender Turbinenlärm oder Geräusche einer Fabrikhalle. Es versteht sich von selbst, daß hier nicht von Musik im herkömmlichen Sinne die Rede ist. Es gibt keine Melodien, keine traditionellen Instrumente, keine Stimme, allenfalls Rhythmus. Aber, so unwahrscheinlich das klingen mag, Vivenzas Tonkunst ist nicht intellektualistisch nur über kunsthistorisches Hintergrundwissen konsumierbar. In ihr lebt eine unmittelbare Dynamik, die auch einen Laien der modernen Experimentalmusik gefangennehmen und ihn ganz unmerklich in einen konzentriert-wachen Zustand versetzen kann.

Grundsätzlich darf man sich natürlich fragen, warum ein Künstler derart treu eine historisch gewordene Avantgarde-Strömung fortsetzen wollte. Letztlich dürfte sich auch Vivenza selbst diese Frage gestellt haben. Jedenfalls ist ein deutlicher Bruch zwischen dem alten futuristischen und dem nun schriftstellerisch tätigen Vivenza festzustellen. Der Tonkunst hat er seit über zehn Jahren völlig den Rücken zugekehrt, sein zentrales kompositorisches Werk „Réalités Servomécaniques“ von 1985 ist nun jedoch wieder erhältlich.

Vivenza: Réalités Servomécaniques, Rotorelief 2009 (1985): im Internet: www.rotorelief.com

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