© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Europäische Union
Staat ohne Staatsvolk
von Wolfgang Philipp

Die Einführung der nun am Rande des Scheiterns stehenden europäischen Gemeinschaftswährung steht beispielhaft für den Mangel demokratischer Legitimation  des gerade von der politischen Klasse in Deutschland forcierten europäischen Integrationsprozesses. Das schon sprichwörtlich gewordene Demokratiedefizit des sich etablierenden europäischen Superstaates zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Europäischen Union. Der Jurist Wolfgang Philipp analysiert vor diesem Hintergrund in seinem Forum-Beitrag die problematische De-facto-Staatlichkeit der EU und kritisiert die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, den Lissabon-Vertrag als „verfassungskonform“ zu akzeptieren.  (JF)

 

Der Vertrag von Lissabon besteht aus Verträgen „über die Europäische Union (VEU)“ und „über die Arbeitsweise der Europäischen Union (VAEU)“ mit zusammen 413 Artikeln sowie Anlagen und Protokollen. Dieses Vertragswerk hat das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2009 als „verfassungskonform“ akzeptiert. Nach den eigenen Erkenntnissen des Gerichts wäre aber eine Entscheidung gegen den Lissabon-Vertrag geboten gewesen.

Mit Recht stellt das Gericht fest, das Grundgesetz lasse nicht zu, „durch Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben“. Es erlaube (nur) „eine enge auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten“. Die Mitgliedstaaten dürften nicht zu untergeordneten „Bundesländern“ degradiert werden.

Auf dieser Basis prüft das Gericht, ob die Europäische Union (EU) durch den Vertrag von Lissabon etwa doch eigene Staatlichkeit erwirbt. In diesem Falle hätte es den Vertrag nach seinen eigenen Prämissen als verfassungswidrig verwerfen müssen. Mangels deutscher Zustimmung wäre der Vertrag gescheitert.

Nach klassischer Staatslehre liegt ein Staat nur vor, wenn es ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine effektive Staatsgewalt gibt. Das Vorhandensein eines europäischen Staatsvolkes hat das Bundesverfassungsgericht schon bisher stets verneint. Die Union bestehe vielmehr aus 27 souveränen nationalstaatlich geprägten Staatsvölkern.

Obwohl die EU also mangels eines eigenen Staatsvolkes gar kein Staat sein kann, will der Vertrag von Lissabon faktische Staatlichkeit der EU im Sinne eines Bundesstaates an diesem Mangel nicht scheitern lassen: In Artikel 10 des EU-Vertrages heißt es, die Arbeitsweise der Union beruhe auf der repräsentativen Demokratie. Die Bürger seien unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Nach Artikel 14 EUV setze sich das Parlament „aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen“. Das macht nur Sinn, wenn es ein europäisches Staatsvolk gibt. Die Artikel 10 und 14 des EU-Vertrages beschreiben nicht eine staatsrechtlich-demokratische Wirklichkeit, sondern enthalten jenseits der Realität die Fiktion eines europäischen Staatsvolkes, als ob es ein solches gäbe.

In Kapitel 2 VAEU reserviert sich die EU bisher den Einzelstaaten zukommende Rechte auf dem Gebiet der Asylgewährung, des Aufenthaltsrechts und der Einwanderung. Sie soll eine gemeinsame Einwanderungspolitik entwickeln. Der Lissabon-Vertrag fingiert also auch auf diesem Gebiet ein europäisches Staatsvolk, über dessen Zusammensetzung Brüssel selbst entscheiden kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Möglichkeiten, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu überprüfen. Wenn Wortlaut und Sinn dies zulassen, stellt es fest, daß die Norm nur in einer von ihm festgelegten „verfassungskonformen Auslegung“ der Verfassung noch entspricht. Anderenfalls muß das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Norm feststellen. „Verfassungskonforme Auslegung“ am Maßstab des Grundgesetzes hat im Falle des Lissabon-Vertrages als internationalem Abkommen aber den Nachteil, daß sie andere Mitgliedstaaten und die EU selbst nicht bindet. Diese können an ihrer abweichenden Vertragsinterpretation festhalten – auch durch Mehrheitsbeschlüsse. Verfassungskonforme Auslegung ist in solchen Fällen also kein taugliches Mittel der Rechtsfindung.

Das Gericht hat sehr wohl gesehen, daß Formulierungen in Artikel 10 und 14 des EU-Vertrages seinen eigenen Feststellungen widersprechen, daß es ein europäisches Staatsvolk weder gibt noch geben darf. Dementsprechend hätte das Bundesverfassungsgericht die in Artikel 20 GG festgelegte Souveränität des deutschen Staatsvolkes als verletzt ansehen und den Vertrag verwerfen müssen. Statt dessen legte es Artikel 10 und 14 EUV verfassungskonform aus: Das Europäische Parlament sei „entgegen dem Anspruch, den Artikel 10 Absatz 1 EUV-Lissabon nach seinem Wortlaut zu erheben scheint (sic!), kein Repräsentativorgan eines souveränen europäischen Volkes“, sondern „Vertretung der Völker in den jeweils zugewiesenen nationalen Kontingenten von Abgeordneten“.

Das Gericht legt den Begriff „Unionsbürgerschaft“ gegen den Wortlaut und gegen den politischen Willen der Verfasser dieses Vertrages aus. Es handele sich hier noch nicht um die „Übertragung eines Bundesstaatsmodells auf die europäische Ebene, sondern um die Erweiterung des verfassungsrechtlichen Föderalmodells um eine überstaatlich kooperative Dimension“, was auch immer diese wolkige Formulierung besagen mag. Diese Uminterpretation vergewaltigt die EU-Texte, statt sie zu verwerfen und dadurch die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit (kein Staatsvolk) wiederherzustellen. In einem Beschluß vom 22. September 2009 hat das Gericht erneut bekräftigt, die europäische Integration über den Vertrag von Lissabon sei verfassungskonform realisierbar!

Daß die Artikel 10 und 14 des Lissabon-Vertrages gerade nicht so gemeint sind, wie das Bundesverfassungsgericht sie auslegt, ergibt sich auch aus anderen Umständen: Bereits der gescheiterte Vertrag über die „Europäische Verfassung“ ging von einer Staatsgründung aus. Auch soll der Lissabon-Vertrag „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas darstellen“ (Artikel 1 Absatz 2 VEU). Diese Zielsetzung ohne Limit kann nur eine Staatwerdung meinen. Schon der Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1992 wurde als Begründung eines europäischen Bundesstaates angesehen.

Im gleichen Sinne haben Politiker, Professoren und andere trotz des Urteils vom 30. Juni 2009 verkündet, sie strebten entgegen den Intentionen des Gerichts die Errichtung eines europäischen Bundesstaates („Vereinigte Staaten von Europa“) an. Insgesamt wenden sich solche Kritiker auch noch dagegen, daß das Urteil weitere künftige Kompetenzübertragungen an die EU erschwert. Hier spätestens wird klar, wohin die Reise führen soll. Zwischen der verfassungskonformen Interpretation der Artikel 10 und 14 EUV durch das Bundesverfassungsgericht einerseits sowie dem Wortlaut des Vertrages und den Wünschen der Europapolitiker und der EU andererseits besteht ein Gegensatz. Diesen Gegensatz hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner international wirkungslosen Beschränkung auf „verfassungskonforme Auslegung“ quasi „zwangsharmonisiert“ und so den Weg der EU in einen rein faktischen (fingierten) Bundesstaat nicht versperrt.

In Wirklichkeit schafft der Lissabon-Vertrag eine „europäische Staatsgewalt“: Erstmals erhält die EU eigene Rechtspersönlichkeit. Artikel 13 des EU-Vertrages sieht typische Staatsorgane vor: das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Kommission, den Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und den Rechnungshof. Der Europäische Rat setzt sich zusammen aus seinem Präsidenten, den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und dem Präsidenten der Kommission. Der Europäische Rat soll den „Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ ernennen, also eine Art Außenminister. Der Aufbau eines diplomatischen Dienstes mit Botschaftern in 130 Ländern und Tausenden von Mitarbeitern ist bereits im Gange. Der Rat wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnis aus. Zu seinen Aufgaben gehört die Festlegung der Politik und die Koordinierung nach Maßgabe der Verträge. Der Rat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene. Die Funktion des Rates kann mutatis mutandis mit dem deutschen Bundesrat verglichen werden.

Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit, wie sie in Artikel 16 Absatz 4 kompliziert umschrieben ist.

Die Europäische Kommission ist das Machtzentrum der Union. Ihr steht wie einer Regierung insbesondere das Recht der Gesetzesinitiative zu, sie beschäftigt rund 44.500 Beamte. In Artikel 3 VAEU wird zwischen einer ausschließlichen Zuständigkeit und einer hier „geteilte Zuständigkeit“ genannten konkurrierenden Gesetzgebung der EU unterschieden; auch hier eine deutliche Analogie zu den bundesstaatlichen Regelungen in Deutschland.

Von besonderer Bedeutung sind Artikel 288 ff. VAEU mit der Überschrift „Rechtsakte der Union“. Danach nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinienbeschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an. Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat verbindlich, überläßt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich.

Alle diese Bestimmungen beschreiben eine typische staatliche Tätigkeit. Von besonderer Bedeutung ist dabei, daß in weitem Umfange Mehrheitsbeschlüsse möglich sind. Ein Staat, der sich nicht an Beschlüsse der EU hält, kann mit einem „Vertragsverletzungsverfahren“ überzogen und mit Zwangsgeldzahlungen bedroht werden. In Artikel 311 VAEU ist festgelegt, daß die EU „sich mit den erforderlichen Mitteln ausstattet“, um ihre Ziele erreichen zu können. Es können auch „neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt werden“. Daraus leitet die Kommission die Forderung auf eigene Steuern der EU ab. Das Recht, Steuern zu erheben, setzt zwingend voraus, daß die EU als „Staat“ handelt. Auch die aktuelle Diskussion um eine „europäische Wirtschaftsregierung“ mit Kontrolle der EU über die laufenden Haushalte der Mitgliedstaaten signalisiert Staatlichkeit. Diese muß nicht vollständig sein: Im Bundesstaat gibt es zwei staatliche Ebenen, welche sich die Staatsgewalt in ihren Zuständigkeiten teilen.

Neben dem Mangel eines Staatsvolkes führt das Bundesverfassungsgericht im wesentlichen drei Argumente gegen die Annahme von Staatlichkeit der EU an. Erstens: Dem Bundestag verblieben „noch eigene Aufgaben und Zuständigkeiten von hinreichendem Gewicht“. Diese Restzuständigkeit beschreibt aber nur noch ein Schattendasein des Bundestages. Zweitens: Jeder Mitgliedstaat habe ein Austrittsrecht. Das spricht zwar gegen Staatlichkeit, weil man aus einem Staat weniger leicht austreten kann als aus einem völkerrechtlichen Verbund. Sezessionen hat es aber in der Geschichte immer wieder gegeben, in jüngerer Zeit etwa den Austritt der Slowakei aus der Tschechoslowakei.

Soweit das Bundesverfassungsgericht meint, immerhin sei die „Kompetenz-Kompetenz“, also das Recht, die eigene Zuständigkeit zu erweitern, bei den Mitgliedstaaten verblieben (drittens), hat dies wenig Durchschlagskraft.

Da schon rund 84 Prozent aller Entscheidungen in Brüssel fallen, bleibt für die Ausübung von „Kompetenz-Kompetenz“ in der EU nur noch wenig Raum. Außerdem ist diese Kompetenz-Kompetenz schon oft vom Europäischen Gerichtshof in Anspruch genommen worden, der von sich aus die Zuständigkeit der EU vielfach erweitert hat.

Angesichts der bei der EU bereits versammelten starken „Staatsgewalt“ werden die Bürger Europas die EU als „Staat“ empfinden, obwohl er „juristisch“ keiner ist. Ein Staat ohne Staatsvolk, also ohne eigenen Souverän, ist aber letztlich Fremdherrschaft – ein Ansatz, der kaum zukunftsträchtig sein kann.

Das dem Lissabon-Vertrag anhaftende Demokratiedefizit hat das Gericht hingenommen, weil die EU noch kein Staat sei. Das schließt aber den Fall nicht aus, daß die EU das Bestehen eigener Staatlichkeit fingiert und den Bürgern wie ein Staat gegenübertritt. Dieser „real existierende“ Staat hat dann aber keine hinreichende demokratische Grundlage. 27 demokratisch verfaßte Staaten haben sich zu einem nichtdemokratischen (fingierten) „De-facto-Staat“ zusammengeschlossen. Von diesem Gebilde gehen enorme Rückwirkungen auf die Mitgliedstaaten aus. Eine widerspruchsvolle Gemengelage, die auch die Gefahr enthält, daß die undemokratische Spitze sich in Richtung einer Diktatur entwickelt. Diese fatale Lücke hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner verfehlten, die anderen Vertragspartner nicht bindenden verfassungskonformen Auslegung bestehen lassen. Der fingierte Staat ist keinen Deut demokratischer als der vom Bundesverfassungsgericht definierte „Noch-nicht-Staat“.

So gesehen ist das Bundesverfassungsgericht der europäischen Wirklichkeit nach dem Lissabon-Vertrag nicht gerecht geworden. Die staatsrechtlichen und demokratischen Grundlagen stimmen nicht. Ein real existierender Staat ohne Staatsvolk ist ein Unding und wird so auf die Dauer nicht akzeptiert werden.

 

Dr. Wolfgang Philipp arbeitet als Rechtsanwalt in Mannheim. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die Gefahren des religiösen Relativismus im Umgang mit dem Islam („Christ oder Moslem – alles egal?“, JF 10/09).

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