© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Zeitgeschichte
Der Film von Jiri Chmelicek
Dieter Stein

Rote Rosen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel am 9. Mai am Grabmal des Unbekannten Soldaten an der Moskauer Kreml-Mauer niedergelegt. Rußland beging den Tag des Sieges mit einer gigantischen Militärparade. Die Kanzlerin würdigte die Alliierten für ihre Opfer im Kampf gegen die Deutschen. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten hätten Deutschland „befreit“. Die Deutschen würden „die Befreier nie vergessen“, so Merkel.

Drei Tage zuvor strahlte der tschechische Fernsehsender CT 24 eine Dokumentation zur besten Sendezeit aus (siehe Bericht auf Seite 20). Unter dem drastischen Titel „Abschlachten auf tschechische Art“ zeigt der Filmemacher David Vondracek bis dahin unveröffentlichte Aufnahmen des Zeitzeugen Jiri Chmelicek von einem Massaker an Deutschen in einem Prager Vorort am 10. Mai 1945, bei dem 42 Deutsche ermordet wurden. Im übrigen widmet sich der Film einem der schlimmsten Pogrome, bei dem im Juni 1945 in Postelberg über 800 Sudetendeutsche abgeschlachtet wurden. Die Dokumentation ist eine Sensation: Erstens, weil ein Prager Fernsehsender ausgerechnet vor dem 8. Mai einen Film zeigt, der sich schonungslos dem nationalen Tabu zuwendet – den Massakern an Deutschen durch Tschechen nach der Kapitulation der Wehrmacht. Zweitens: Bislang waren nur Fotos, aber keine Filmaufnahmen von den Exzessen bekannt.

An Vondraceks Film erkennt man, welche Macht bewegte Bilder haben, der sich der Betrachter nicht entziehen kann. Das erklärt, warum tschechische Behörden alles daransetzten, solche Aufnahmen verschwinden zu lassen.

Für Überlebende der Massaker, die Opfer des Bombenkriegs und von Flucht und Vertreibung, die von Rotarmisten vergewaltigten Hunderttausenden Frauen ist es eine demütigende Leugnung ihres Schicksals, wenn die Kanzlerin ausgerechnet in Moskau erklärt, die Deutschen würden „ihre Befreier nie vergessen“. Für überlebende deutsche Juden wie den späteren Publizisten Gerhard Löwenthal wie auch für Insassen der Konzentrationslager bedeutete der Einmarsch der Roten Armee in Berlin tatsächlich Befreiung. Ansonsten galt jedoch, was die US-amerikanische Besatzungsdirektive JCS 1067 verlautbarte: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegte Feindnation.“ Und so gestaltete sich auch das Besatzungsregime – bis man die Deutschen im Zuge des Kalten Krieges wieder brauchte.

Vondraceks Film löste in der Tschechei eine lebhafte Debatte über die Verbrechen an Deutschen aus. Tschechische Nationalisten bedrohten den Regisseur und die Frau, die den Film aus ihrem Nachlaß herausgegeben hat.

Indessen ist es bezeichnend, welch geringes Echo Film und Debatte in Deutschland hervorriefen. Drei Regionalzeitungen brachten Meldungen. Das Fernsehen? Am Tag nach der Sendung hätte es eine Leitmeldung in der Tagesschau geben müssen, Sondersendungen. Nichts dergleichen – Sendepause. Ein schändliches Zeugnis des Verlusts öffentlicher Pietät in Deutschland.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen