© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Annäherung an den Gläubiger der Zukunft
Vor vierzig Jahren änderten die USA ihre Chinapolitik / Gegenüber der Volksrepublik herrschte damals noch die Position der Stärke
Peter Kuntze

Am 5. Februar 2010 erklärte US-Außenministerin Hillary Clinton in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung anläßlich der Münchner Sicherheitskonferenz: „Wir  werden unseren Grundsätzen treu bleiben. Der erste dieser Grundsätze: Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten. (...) Wir lehnen jegliche Einflußzonen ab, in denen ein Land versucht, ein anderes zu kontrollieren.“ Diese Aussagen richteten sich gegen das Bestreben Moskaus, nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder Einfluß auf seine Nachbarn zu nehmen; angesichts von Dutzenden offener  und verdeckter Interventionen der USA und des völkerrechtswidrigen Präventivkriegs gegen den Irak sind Clintons Behauptungen jedoch zugleich ein Beispiel schamloser Heuchelei, das auf die Geschichtsvergessenheit des westlichen Publikums setzt.

Nixon und Kissinger stellen sich der politischen Realität

Vor noch nicht einmal vier Jahrzehnten endete ein welthistorischer Anachronismus, den die USA mit einer verblendeten und wirklichkeitsfernen Politik zu ihrem eigenen Schaden zu verantworten hatten. Anfang 1970 begann Präsident Richard M. Nixon, assistiert von seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger, jene bislang verdrängten Realitäten anzuerkennen: „In diesem Jahrzehnt wird es keine wichtigere Aufgabe geben, als die Volksrepublik China in eine konstruktive Beziehung zur Weltgemeinschaft zu bringen.“ Damals indes hatten Washingtons engste Verbündete wie Großbritannien, Frankreich und Kanada Peking längst anerkannt, und in der Uno-Vollversammlung hatte sich eine Mehrheit für die Aufnahme des Landes in die Vereinten Nationen ausgesprochen.

Um in den aus den seinerzeitigen Anachronismus resultierenden Propagandaschlachten nicht Ursache und Wirkung zu verwechseln, sei eine zunächst ungeheuerlich anmutende Vorstellung erlaubt: Die Chinenen greifen Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt aktiv in einen Bürgerkrieg in den USA ein. Als die letzten Parteigänger und Repräsentanten der besiegten Washingtoner Regierung auf die Insel Kuba flüchten und sich zu den rechtmäßigen Vertretern der Vereinigten Staaten erklären, schließt China einen Beistandspakt mit dieser Exilregierung, deren obersten Ziel die „Rückeroberung des Festlands“ ist, und setzt in der Uno durch, daß das Flüchtlingsregime als „einzig legitime Regierung der USA“ Sitz und Stimme behält. Gleichzeitig legt Peking einen nuklearen Stützpunktgürtel rings um Amerika und warnt seine Verbündeten davor, Beziehungen mit dem „verbrecherischen Regime“ in Washington aufzunehmen, gegen das es ein Handelsembargo verhängt hat. Wenig später entsenden die Chinesen eine halbe Million Soldaten nach Mexiko, wo es mittlerweile ebenfalls zu einem Bürgerkrieg gekommen ist. China unterstützt die diktatorischen Machthaber im Süden und bombardiert das mit den USA verbündete Nordmexiko. Diese Vorstellung ist in der Tat ungeheuerlich, und doch war sie für Peking zwei Jahrzehnte lang Realität: Man braucht nur „China“ durch die USA, „Kuba“ durch Taiwan (Formosa) und „Mexiko“ durch Vietnam zu ersetzen.

China nimmt 1971 Taiwans Sitz im Sicherheitsrat ein

Die Schlacht, die mehr als zwanzig Jahre währte, wurde 1971 entschieden: Im Oktober jenen Jahres nahm die Volksrepublik China endlich den ihr zustehenden ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat ein, der bis dahin von der 1949 auf die Insel Taiwan – eine chinesische Provinz – geflohenen Regierung Tschiang Kai-scheks besetzt war. Im Februar 1972 reichte Präsident Nixon in Peking jenen Männern die Hand, die er wenige Jahre zuvor noch als „Tyrannen“ und „Sklavenhalter“ bezeichnet hatte.

Die Krokodilstränen, die damals mancherorts über das „ungerechte Schicksal“ der Nationalchinesen vergossen wurden, waren überflüssig: Der Diktator Tschiang, dessen korruptes Militärregime längst vor 1949 bankrott gegangen war, hatte sich sein eigenes Grab geschaufelt, und seine amerikanischen Freunde, die ihm im Verein mit einer mächtigen Lobby das Überleben auf Taiwan ermöglicht und seinen fiktiven Alleinvertretungsanspruch moralisch, finanziell, politisch und militärisch unterstützt hatten, mußten in einer bitteren Lektion für die gravierenden Fehler ihrer China-Politik zahlen.

Im Communiqué von Schanghai, das bis heute die Grundlage der beiderseitigen Beziehungen ist, erkannte Nixon an, daß die Regierung in Peking die für ganz China allein rechtmäßige ist, daß sowohl die Provinz Taiwan als auch Tibet integrale Bestandteile des chinesischen Territoriums sind und daß die Taiwan-Frage eine innerchinesische Angelegenheit ist, in die sich die USA nicht einmischen werden. Damit bestätigte Nixon lediglich, was vor ihm bereits andere US-Präsidenten gegenüber dem nationalchinesischen Regime erklärt hatten.

Darüber hinaus kündigten die USA jetzt die Aufhebung ihrer Wirtschaftsblockade an und vereinbarten mit der Volksrepublik Austauschprogramme in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Kultur, Sport und Journalismus    – diese Punkte hatte Peking seit 1955 in den in Genf und später in Warschau geführten über 130 Botschaftergesprächen wiederholt vorgeschlagen, sie waren jedoch von Washington abgelehnt worden. Auf der Genfer Indochinakonferenz (8. Mai bis 21. Juli 1954) hatte sich Außenminister John Foster Dulles sogar geweigert, Tschou En-lai – damals Außenminister und Regierungschef der Volksrepublik – die von diesem gereichte Hand zu schütteln.

Die USA behandelten Peking jahrelang als Paria-Nation

Millionen von Amerikanern stellten sich seinerzeit einen Chinesen als unheimlichen Bösewicht vor, denn eine Reihe in den zwanziger und dreißiger Jahren sehr beliebter Filme über „Dr. Fu Manchu“ hatte nun noch einmal Hochkonjunktur. Jener Dr. Fu drückte laut Hollywood-Reklame „mit jedem Wink seines Fingers und jedem Zucken seiner Augenbraue eine Drohung und mit dem Blick seiner Schlitzaugen Terror aus“. Wie ein Paria wurde die Regierung in Peking, die ein Volk von 750 Millionen vertrat, von den USA behandelt; sie konnte nichts anderes als „ernste Warnungen“ aussprechen, wenn amerikanische Kriegsschiffe oder Flugzeuge wieder einmal chinesisches Hoheitsgebiet verletzt hatten. In westlichen Zeitungsredaktionen wurden diese durchnumerierten Routine-Warnungen schließlich nur noch als Kurzmeldungen registriert.

 

Peter Kuntze, Autor mehrerer Bücher über China, war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.

Fotos: US-Präsident Nixon trifft Mao Zedong im Februar 1972: Der Anerkennung des chinesischen Alleinvertretungsanspruchs folgte die Aufhebung der US-Wirtschaftsblockade, Hollywood-Filmplakat zu Fu Manchu: Feindbild zum Schaudern

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