© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Eurovision Song Contest 2010 in Oslo: Nachsitzen beim NDR
Europa ist ernster geworden
Curd-Torsten Weick

And twelve points go to .... Greece“. Ist Hape Kerkeling ein guter Europäer, dann verkündet er am Samstag, den 29. Mai live von der Reeperbahn das „Voting“ der deutschen Jury so und nicht anders (ab 20.15 Uhr, ARD). Griechenland-Hilfe hin, Milliarden-Kredit her – die Hellenen haben das Zeug zum Eurovision-Heldentum. Ein erster Platz beim Eurovision Song Contest (ESC) im Jahr 2005, ein neunter (2006), siebter (2007), dritter (2008) und siebter Rang im letzten Jahr sprechen für sich. Auch 2010 stehen die Chancen nicht schlecht. Giorgos Alkaios & Friends werden mit ihrem kraftvollen „Opa“ so manchen eingeschlafenen Halbfinal-Zuschauer des Osloer Eurovision-Song-Spektakels aus dem Sofa kicken: „Huuuh!“

Umbenennung in Eurovision English Contest

Überhaupt scheint Europa ernster geworden zu sein. Allerlei Gefühl, Nachdenkliches, ja schmerzhaft Melancholisches liegt da in Oslo in der Luft. Fast schon traurig mit anzusehen und anzuhören, wenn Rußlands Pjotr Andrejewitsch Nalitsch in – bewußt – radebrechendem Englisch weinerlich singt: „Here I am – lost and forgotten“. Ja, die englische Sprache. Der ESC sollte in Eurovision English Contest umbe-nannt werden. Dann hätte selbst unsere deutsche Hoffnung Lena Meyer-Landrut mit ihrer eigenwilligen Interpretation des Englischen gute Chancen.

Chancen hat das Mädel aus Hannover, das nach dem Sieg bei „Unser Star für Oslo“ drei Titel unter den ersten fünf Plazierungen der deutschen Single-Charts verbuchen konnte, sowieso. Geliebt vom Volk, hoch gehandelt von den englischen Buchmachern und geadelt vom Vorjahressieger Alexander Rybak („Ihr Lied hat das gewisse Etwas“), da kann ja nichts mehr anbrennen. Eine bessere Plazierung als der magere 20. Platz vom Vorjahr (Alex Swings Oscar Sings!: „Miss Kiss Kiss Bang“) könnte drin sein – zumindest wenn es nach Rybak geht, der die anderen 38 Beiträge gegenüber dem NDR als „enttäuschend“ kritisierte.

Da hatte der smarte Teufelsgeiger und Märchenprinz aber wohl nur mit einem Ohr zugehört. Sicher, spektakuläre Auftritte à la Lordi („Hard Rock Hallelujah“, 2006) oder Verka Serduchka („Dancing Lasha Tumbai“, 2007) sind nicht mehr drin.

Für Interessantes ist trotzdem gesorgt: Gänsehautgefühl bei Anna Bergendahls „This Is My Life“ (Schweden). Spaß pur, wenn InCulto aus Litauen ihren „Eastern European Funk“ zelebrieren, wenn der junge Serbe Milan Stanković dem Balkanbeat frönt oder das slowenische Ensemble Roka Žlindra & Kalamari mit seinem Mix aus Rock und Original-Oberkrainer Musik auf den Spuren Hubert von Goiserns wandeln.

Um glatte dreißig Jahre ins letzte Jahrtausend zurückversetzt fühlt man sich, wenn Holland seine Sieneke Peeters präsentiert: Kirmesorgel, Ziehharmonika und ein nettes Lächeln – Holland pur. Die George Baker Selection („Una paloma blanca“), Nico Haak („Schmidtchen Schleicher“) und Vadder Abraham („Lied der Schlümpfe“) lassen grüßen. Letzterer komponierte das „Ik ben verliefd (Shalalie)“ und beweist mit seinem klassischen Schlager Mut.

Selbiger scheint den NDR-Programmplanern bei der Übertragung der beiden Halbfinales abhanden gekommen zu sein. Sie zeigen sich als überaus schlechte Europäer. Sitzt man beim ersten Halbfinale (Dienstag, 25. Mai, 21 Uhr, NDR) noch in der ersten Reihe, wird man beim zweiten (Donnerstag, 27. Mai, 21 Uhr) auf den Sender „Einsfestival“ verwiesen oder darf um 0.55 Uhr (NDR) nachsitzen.

Trotzdem geben sich die NDR-Oberen nach den jüngsten ESC-Schlappen selbstbewußt. Die Kooperation mit Stefan Raab und Pro Sieben bei „Unser Star für Oslo“ habe sich bewährt, heißt es.

Folglich darf das neue Traumduo im deutschen Fernsehen, Sabine Heinrich (1 Live, WDR) und Matthias Opdenhövel (Pro7), in die Moderatorenschuhe des glücklosen Thomas Anders und des spröden Thomas Hermanns steigen und die Reeperbahn zum Kochen bringen, während Hape Kerkeling noch einmal vor dem Schminkspiegel das „... and twelve points go to ...“ übt.  

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