© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

Von Versöhnung keine Spur
Bergkarabach: Der armenisch-aserbaidschanische Konflikt um die Enklave findet keine Ruhe
Claus-M. Wolfschlag

Von erneuten Scharmützeln an der aserbaidschanischen Demarkationsgrenze ist derzeit die Rede. Allein im letzten Jahr sollen im Konflikt um die abtrünnige Republik Bergkarabach sechs armenische Soldaten bei Schießereien getötet, 18 Soldaten und zwei Zivilisten verletzt worden sein. Auch die momentan gescheiterten Versöhnungsbemühungen zwischen Armenien und der Türkei lenken den Blick der Weltöffentlichkeit wieder auf den ungelösten Bergkarabach-Konflikt.

Dessen Wurzel liegt in der russischen Eroberung des Südkaukasus Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie trennte nicht nur die Nord-Aseris von ihren südaserbaidschanischen Brüdern, die unter persischem Kultureinfluß verblieben. Sie ermöglichte auch den kollaborierenden Armeniern, großflächig aus dem Osmanischen Reich und Persien ins heutige Armenien und Bergkarabach einzuwandern. In dieser Migration der urbanen Armenier in das Gebiet der ländlichen aserbaidschanischen Urbevölkerung liegt die Wurzel des derzeitigen Streits, bei dem es stets um Ressourcennutzungen und unterschiedliches Kulturverständnis ging.

Bereits nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs erhoben die sich für unabhängig erklärenden Gebiete Armenien und Aserbaidschan Anspruch auf das armenisch dominierte Bergkarabach, wobei Aserbaidschan von den Türken und Briten unterstützt wurde. Die Sowjetunion befriedete den Konflikt vorübergehend mit der Kompromißlösung einer kulturellen Autonomie der Bergkarabachen innerhalb Aserbaidschans, die aber von den Armeniern zunehmend als unbefriedigend empfunden wurde.

Der während der Sowjetherrschaft ruhiggestellte Konflikt wurde mit dem Verfall der Moskauer Zentralmacht akut. Vor 20 Jahren sagte sich das autonome Gebiet innerhalb der Aserbaidschanischen ASSR von Baku los. Ende der 1980er Jahre waren von den etwa 188.000 Menschen in Bergkarabach circa drei Viertel armenischer Herkunft – eine armenische Insel also inmitten aserbaidschanischen Gebiets.

Die Bergkarabachen strebten die Unabhängigkeit, wenn nicht sogar die Vereinigung mit Armenien an. 1988 kam es in Bergkarabach und Armenien zu großen Unabhängigkeits-Demonstrationen und ersten Vertreibungen Tausender Aseris. Nachdem Berichte vertriebener Aseris in der aserbaidschanischen Öffentlichkeit bekannt wurden, kam es nun wiederum dort zu Pogromen und Ausschreitungen gegen Armenier, bei denen die Sicherheitskräfte nicht einschritten. Schlichtungsprogramme der KPdSU wurden nicht mehr akzeptiert, die ZK-Sekretäre beider Republiken einfach abgesetzt. Am 12. Juli 1988 erklärte daraufhin der Karabacher Gebietssowjet den Austritt aus Aserbeidschan. Bis September 1989 flohen 180.000 Armenier aus Aserbaidschan und etwa 100.000 Aseris aus Armenien.

Als sich am 3. September 1991 schließlich Armenien und Aserbaidschan für unabhängig erklärten, verkündete auch die Republik Bergkarabach ihre Unabhängigkeit. Aserbaidschan reagierte mit einer Verkehrs- und Energieblockade sowie der gänzlichen Aufhebung der bisherigen Autonomie des Gebiets und dessen Aufteilung in Nachbarbezirke.

Anfang 1992 erhitzte sich der Konflikt gar zum offenen Krieg. Obwohl es wiederholt zu Massenmorden in armenischen und aserbaidschanischen Dörfern gekommen war, legte der damalige aserbaischanische Präsident Mutalibow im Februar einen Friedensplan auf Basis eines Rückzugs aller Truppen und einer kulturellen Autonomie Bergkarabachs vor.

Doch kurz darauf ereignete sich das Massaker in der karabachischen Ortschaft Xocali (Chodschaly), bei dem angeblich armenische Milizionäre mehrere hundert aserische Einwohner ermordeten. Aus dem nun bis 1994 dauernden Krieg ging die armenische Seite als Sieger hervor. Armenische Milizionäre erlangten, bald unterstützt von der armenischen Armee, die Kontrolle über Bergkarabach sowie den aserbaidschanischen Korridor zu Armenien und weitere Teile aserbaidschanischer Grenzprovinzen. Der erst im Aufbau befindlichen aserbaidschanischen Armee gelang es nur, kleinere Landstriche im Norden und äußersten Osten Bergkarabachs unter ihrer Kontrolle zu halten. Die Türkei brach ihre diplomatischen Beziehungen zu Armenien ab.

30.000 Menschen starben infolge des Konflikts, eine Million wurde vertrieben. Im Mai 1994 wurde schließlich ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, das bis heute den Status quo einer armenisch bestimmten de-facto-Republik Bergkarabach festschreibt.

Seitdem sieht sich Bergkarabach von den Ablösungsbestrebungen im Kosovo, aber auch in Südossetien und Abchasien bestärkt. Die Wirtschaft der Region hat sich dank zahlreicher Spenden und Investitionen von Exil-Armeniern seit den 1990er Jahren erholt, und das Gebiet ist heute weitgehend rein armenisch besiedelt. Zu den 140.000 Einwohnern kommen 20.000 armenische Soldaten, die die Waffenstillstandslinie militärisch sichern.

Erst nach einem GUS-Gipfel in Sankt Petersburg schien 2008 positive Bewegung in den Konflikt zu kommen, als die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens erklärten, daß sie diesen nun friedlich und nach internationalem Recht zu lösen bemüht seien.

Doch in den Lösungsprozeß spielen auch globalökonomische Interessen hinein. Die Südkaukasus-Region ist ein traditioneller Spielball wichtiger Territorialmächte. Römer, Byzantiner, Perser, Osmanen und Russen stritten dort schon um Vorherrschaften und Vasallen. Entsprechend bemüht sich nun Aserbaidschans muslimischer Bruderstaat Türkei um eine diplomatische Aussöhnung mit Armenien, um sich als politische und ökonomische Ordnungsmacht in der Region zu festigen. Auf Schweizer Vermittlung hin unterzeichneten der türkische Premier Erdoğan und der armenische Präsident Sersch Sargsjan 2009 die „Züricher Protokolle“ über eine Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Staaten.

Doch die Versöhnung mit Armenien wurde von türkischer Seite aus nun vorerst wieder eingefroren. Auf Druck der armenischen Diaspora hatte Eriwan nämlich unlängst gefordert, die türkischen Massaker an den Armeniern von 1915 international als Völkermord anerkennen zu lassen. Zudem war Eriwan nicht dem türkischen Wunsch nach mehr Flexibilität in der Lösung der Bergkarabach-Frage entgegengekommen. Die Türkei hatte den Rückzug der Armenier aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten außerhalb Bergkarabachs zur Voraussetzung einer Grenzöffnung gemacht.

Die Armenier aber denken, sich auf Rußland als Schutzmacht der Christen im Kaukasus verlassen zu können. Moskau profitiert von der armenischen Isolation ökonomisch, da die Wirtschaft des Landes stark russisch kontrolliert ist. Doch wäre Moskau insofern an einer Beilegung des Konflikts gelegen, da ein offener Krieg den eigenen Zugang zu den aserbaidschanischen Energiequellen gefährden könnte.

Einzig der Iran profitiert vollends vom Status quo eines abgeriegelten und rohstoffarmen Armenien, da Eriwan einen Großteil des Außenhandels derzeit über Teheran abwickeln muß.

So erklärte Armeniens Präsident Sargsjan unlängst in einem Interview: „Wenn Aserbaidschan die Unabhängigkeit von Bergkarabach anerkennt, so kann das Problem in einigen wenigen Stunden gelöst werden. Leider sind sie bisher der Auffassung, daß wir Bergkarabach zurückgeben müssen. Aber die Rückgabe von Bergkarabach an Aserbaidschan bedeutet die volle Ausweisung der Armenier aus dieser Region im Laufe einer kurzen Zeit.“

Aserbaidschan wiederum schreckt aufgrund der möglichen wirtschaftlichen Verluste im Erdölgeschäft bislang vor einer militärischen Lösung zurück. Dennoch sind Drohungen aus Baku an die Adresse von Eriwan und Stepanakert unüberhörbar. Im November hatte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew für den Fall des Scheiterns von Verhandlungen erneut mit dem Einsatz militärischer Mittel gedroht. Man wolle zwar eine friedliche Lösung, verkündete er, werde aber nicht mehr ewig warten: „Wir können es uns nicht leisten, daß dieser Konflikt weitere 15 Jahre auf Eis liegt.“ Alijew fühlte sich unter Zeitdruck, da er befürchtete, daß Ankara trotz anderslautender Zusicherungen im Falle einer Aussöhnung mit Armenien, den aserbaidschanischen Anspruch auf Bergkarabach nicht mehr unterstützen würde.

Problematisch ist, daß Bergkarabach auf beiden Seiten als nationales Symbol betrachtet wird. Auf friedlichem Weg ist aber nur eine Kompromißlösung möglich. Diese würde auf eine de-facto-Anerkennung der Unabhängigkeit Bergkarabachs hinauslaufen, auch wenn Aserbaidschan formal noch eine Rolle spielen könnte, damit Baku sein Gesicht wahren kann. Bergkarabach braucht zudem einen freien Transit-Korridor zu Armenien, um Blockadeängsten entgegenzuwirken.

Zugleich muß ein vollständiger Truppenabzug der Armenier aus besetzten aserbaidschanischen Territorien und eine Rückkehrgarantie für Heimatvertriebene erfolgen. Eine schwierige Aufgabe – sie zu lösen, könnte aber für alle Seiten Vorteile bringen. Andernfalls droht ein weiteres Pulverfaß im Kaukasus zu explodieren.

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