© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

Lektionen gelernt
Nachruf: Am 17. Mai verstarb Ludwig von Friedeburg
Karlheinz Weissmann

Mit Ludwig von Friedeburg, dem Sozialwissenschaftler und ehemaligen hessischen Kultusminister, ist in der vergangenen Woche ein weiterer prominenter Vertreter der Kriegsgeneration gestorben. Die Jahrgänge derer, die bis 1945 noch eingezogen wurden, lichten sich, und mit dem Tod dieser Männer verschwindet jede lebendige Erinnerung an ein Deutschland, das heute kaum noch in seinen Konturen erkennbar ist.

Friedeburg könnte als dessen idealtypischer Vertreter gelten: 1924 in Wilhelmshaven geboren, entstammte er einer Offiziersfamilie, wurde mit gerade zwanzig Jahren jüngster U-Boot-Kommandant der Kriegsmarine, sein Vater Hans-Georg von Friedeburg übernahm als letzter Befehlshaber die U-Boot-Waffe, gehörte dann der Regierung Dönitz an und nahm sich infolge der demütigenden Verhaftung durch britische Soldaten das Leben.

Wie auch immer Ludwig von Friedeburg diesen Schritt beurteilt haben mag, seine Biographie legt den Schluß nahe, daß er die Entscheidung seines Vaters kaum gutgeheißen haben dürfte. Was blieb einem Mann seiner Herkunft und Prägung angesichts der deutschen Katastrophe? Grundsätzlich nur: vollständiger Rückzug oder vollständige Bekehrung. Friedeburg entschied sich für die zweite Alternative, nahm ein Studium der Soziologie auf und trat in die SPD ein, 1962 erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität in Frankfurt am Main, wo er gleichzeitig am Institut für Sozialforschung arbeitete.

Obwohl Friedeburg nie den Habitus des Offiziers verleugnen konnte, galt er als ausgesprochener Linker – nicht nur in den Augen der damals noch bürgerlichen Hochschulleitung, sondern auch in den Augen der Studenten. Man sagte ihm nach, daß er in den unruhigen Jahren der einzige Professor war, der sich bei einer Veranstaltung des SDS zeigen konnte. Damit war nicht gesagt, daß er die Ziele der Radikalen teilte, aber er war entschlossen, den Druck der Straße für jene Anliegen zu nutzen, die er selbst politisch durchsetzen wollte: in seiner Partei und dann in der Gesellschaft überhaupt.

Trotzdem kam seine Berufung zum Kultusminister 1969 für viele Beobachter überraschend, und überraschend war auch die Entschlossenheit, mit der Friedeburg daranging, seine Pläne umzusetzen. Deren Ziel war die vollständige Zerstörung des bestehenden Bildungssystems, Beseitigung der Schulorganisation und Einführung von Gesamtschule und „Stufen“-Konzept, Beseitigung der Lehrpläne und des traditionellen Fächerkanons zugunsten von „Rahmenrichtlinien“ und sozialwissenschaftlicher Orientierung. Das Leitmotiv bei alledem war Egalität – „Chancengleichheit“ anstelle von „Chancengerechtigkeit“ –, begründet in der Vorstellung, daß das, was 1945 an prinzipiellen Veränderungen versäumt worden war, jetzt nachzuholen, die Lektionen von Niederlage und Umerziehung endlich zu beherzigen und mit Hilfe der Bildungspolitik eine neue Ordnung zu verankern sei, die weder „Reaktion“ noch „Faschismus“ bedrohen konnten.

Die Widerstände dagegen waren erstaunlich groß und reichten bis weit in Friedeburgs eigene Partei; „Neokonservative“, Hermann Lübbe oder Thomas Nipperdey zum Beispiel, wandten sich damals von der SPD ab, als deutlich wurde, daß Leute wie Friedeburg faktisch auf einen Systemwechsel hinarbeiteten.

Friedeburg hat die Kritik nicht angefochten, aber nach dem für seine Partei desaströsen Ausgang der Landtagswahl von 1974 mußte er als Kultusminister zurücktreten. Er war in den folgenden Jahren weiter als Hochschullehrer und Direktor des Instituts für Sozialforschung tätig, trat in der Öffentlichkeit aber kaum noch hervor. Indes dürfte er mit Befriedigung festgestellt haben, daß seine Schulpolitik nur im ersten Anlauf gescheitert ist und längst von allen Parteien akzeptiert und praktiziert wird.

Wenn man Friedeburgs Lebenslauf betrachtet, ist der Bruch deutlich markiert. Allerdings ist auch das Moment der Kontinuität nicht zu übersehen. Es ist eine Kontinuität der Mentalität, einer ganz deutschen, auch ganz protestantischen Unbedingtheit, mit der sich jemand wie Friedeburg dem als richtig Erkannten verschrieb – auch die Entschlossenheit, eine Bekehrung nicht einfach äußerlich zu vollziehen oder aus Opportunismus die Seiten zu wechseln, sondern tatsächlich Reue zu empfinden und Buße zu tun. Eine Haltung, die charakterlich einnimmt, aber im Politischen fatale Wirkungen haben kann.

Foto: Ludwig von Friedeburg mit Megafon 1970 bei einer Schüler-Demonstration gegen den Numerus clausus: Egalität

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