© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

„Ermutiger zum Angriffskrieg“
Frank Degenhardts Studie zu Erich Kaufmann, des Reiches „machiavellistischstem und reaktionärstem Völkerrechtslehrer“
Fabian Crämer

Kurt Hiller (1885–1972) mochte es gern deftig. Als Intellektueller, der sich die Weltrettung durch Pazifismus, Völkerbund, Frauenemanzipation und „Logokratie“ zur Lebensaufgabe gemacht hatte, faßte er jene, die ihm dabei im Weg standen, nicht mit Samthandschuhen an. Von der Weltbühne bis zu Konkret finden sich seine Pamphlete, die nicht selten auch unter die Gürtellinie zielten. Und kaum jemand brachte diesen Westentaschen-Tucholsky so zur Raserei wie der Völkerrechtler Erich Kaufmann.

Der Berliner Ordinarius, wie der promovierte Jurist Hiller jüdischer Herkunft, galt dem exaltierten Propagandisten eines „Weltbunds des Geistes“ als der gefährlichste Feind seines kosmopolitischen Projekts. Als der „machiavellistischste und reaktionärste Völkerrechtslehrer des Deutschen Reichs“, als „Ermutiger zum Angriffskrieg“, als „Jude im Bunde mit der teutonischen Reaktion“ hätte er ohne die ihn ins holländische Exil drängenden Nürnberger Rassengesetze gewiß Carl Schmitt den Rang eines „Kronjuristen des Dritten Reiches“ streitig gemacht.

Im krassen Gegensatz zu solcher Dämonisierung steht das schwache zeit- und rechtshistorische Interesse an Erich Kaufmann. Mit seiner in Frankfurt bei Michael Stolleis entstandenen Dissertation, die den Staats- und Völkerrechtler „Zwischen Machtstaat und Völkerbund“ plaziert, schließt Frank Degenhardt daher endlich eine recht auffällige Forschungslücke. Die nicht nur von Hiller skandalisierte, „berüchtigte“ Schrift „Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus“ (1911) postulierte das Selbsterhaltungsrecht zum einzigen Staatengrundsatz. Im Interesse eigener Machterhaltung müsse sich ein souveräner Staat auch aus internationalen Bindungen lösen dürfen, wenn diese elementare „Lebensinteressen“ bedrohten. Degenhardt zeichnet diese „Machtstaatslehre“ unaufgeregt nüchtern nach und nimmt ihr das Sensationelle durch Einbettung in die Normalität der wilhelminischen Völkerrechtslehre.

Ebenso sachlich-distanziert klärt der Autor im Hauptkapitel seiner Arbeit über die bis heute fast unbekannte Tätigkeit Kaufmanns als Berater des Auswärtigen Amtes (AA) auf. Zwischen 1918 und 1933 stand er dabei an vorderster Front im juristischen Kampf gegen das Versailler Diktat und seine Folgen, vor allem für die Deutschen in den an Polen abgetretenen preußischen Territorien.

Kaufmann gewinnt hier dank Degenhardts Spürsinn als Verteidiger der deutschen Minderheit im Nationalitätenkonflikt mit Polen erstmals Statur. Es wird aber auch deutlich, warum ihm, obwohl nach 1945 wieder in AA-Diensten und mit höchsten Auszeichnungen geehrt, sowenig rechtshistorisches Interesse zuteil geworden ist. Denn außer dem provokanten „Clausa“-Opus schrieb Kaufmann kein „großes Buch“ mehr, sondern erschöpfte sich als völkerrechtlicher Gutachter, mehr Advokat als Gelehrter.

Frank Degenhardt: Zwischen Machtstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann (1880–1972), Nomos Verlag, Baden-Baden 2009, broschiert, 244 Seiten, 54 Euro

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