© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

Stalins Schreckensregime: Eine Serie von Andrzej Madela / Teil 3
„Kein Tier soll ein anderes Tier töten – ohne Grund“
Gegen die alte Garde der Bolschewisten: Das „trotzkistische terroristische Netzwerk“ läßt Stalin bis 1938 in Schauprozessen aburteilen und ermorden

Die Vormachtstellung der alten Bolschewiki, aber auch die Parteistruktur und deren Tradition stehen Stalin bis Mitte der drießiger Jahre im Wege. Er ist daher gezwungen, innerhalb  bestehender Institutionen, die sich noch dem Politbüro verpflichtet sehen, Parallelstrukturen aufzubauen, die ausschließlich auf ihn geeicht sind. Innerhalb des Zentralkomitees stehen mit Nikolai Jeschow, Schkiriatow und Lew Mechlis zuverlässige Männer zur Verfügung, die bereits im Hintergrund wichtige Vorarbeit leisten und schon bald an die Schaltstellen der „Großen Säuberung“ gelangen (Jeschow als Chef des NKWD, Mechlis als oberster Politkommissar der Roten Armee). Parallel zur NKWD-Führung baut Stalin im ZK die sogenannte Spezialabteilung auf, die de facto Funktionen parteipolitischer Geheimpolizei mit Befugnissen zum Vollzug außerlegaler Gewalt auf sich vereint. Schließlich arbeitet das von Nikolai Poskrebyschew geleitete – und außerhalb der formalen Parteistruktur verbleibende – persönliche Sekretariat eng mit dem erst 1935 zum Generalstaatsanwalt ernannten Andrej Wischinskij zusammen.

Stalin bedient sich aber auch meisterhaft des  angestauten Unzufriedenheitsgefühls, das sich unter den jüngeren Funktionären breitmacht. Diese sehen ihre eigenen Aufstiegschancen vielfach in der Vormachtstellung der alten Garde beschränkt. Der von ihr erzeugte Druck ist immens – und bildet gleichzeitig die parteiinterne Grundlage für Stalins Erfolg. Die Generation der Nikita Chruschtschow, Georgi Malenkow, Anastas Mikojan, Andrej Schdanow und Lawrenti Beria stellt schon bald die Altgedienten vom Schlage eines Lasar Kaganowitsch oder Michail Kalinin in den Schatten. Denn die Terrorwelle setzt keineswegs ausschließlich auf Angst und Einschüchterung. Die angestaute Hoffnung auf Einfluß und Anerkennung erzeugt bei den jungen Funktionären einen populistischen Maximalismus, ohne den die „Große Säuberung“ niemals ihre faktische Dimension erreicht hätte.

Als am 1. Dezember 1934 Sergei Kirow vor der Tür  seines Büros im dritten Stock des Smolny-Palasts erschossen wird, fährt Stalin, begleitet von Molotow und NKWD-Chef Genrich Jagoda, unverzüglich nach Leningrad, um den Attentäter zu verhören. Was er vernimmt, ist ihm hochwillkommen: Leonid Nikolajew wollte gegen die „Verbürokratisierung“ und „hoffnungslose Erstarrung“ des Parteilebens protestieren, gegen schreiende „Defizite in der Parteidemokratie“ und das „Stillhalten der Nomenklatura“ bei den Hungerwellen in der Ukraine – allesamt Argumente wie abgeschrieben aus Martemjan Rjutins „Appell“ (JF 21/10) und eindeutig dem Milieu der alten Garde und deren Kritik am Generalsekretär zuschreibbar. Es fällt Stalin leicht, diesen Zusammenhang herzustellen: Wo Rjutin und seinesgleichen seine „gewaltsame und schnelle“ Entfernung aus dem Amt fordern, dort gehen Rjutins stille Förderer um Lew Kamenjew und Grigori Sinowjew und deren Handlanger zum „Terrorismus“ über.

Der von Stalin geführte Staat befindet sich somit in „Notwehr“ und ergreift nach Hitlers Vorbild vom Juni 1934 „Sondermaßnahmen“. Diese heben die althergebrachte Parteistruktur samt ihrem Mitgliederschutz vor staatlichem Zugriff aus den Angeln. Bereits einen Tag später, am 2. Dezember 1934, erscheint das – im Politbüro gar nicht erst besprochene – „Dekret über Terrorbekämpfung“, welches die Einrichtung von Sonderverfahren und Schnellgerichten ankündigt, die Urteile in diesen Fällen zu sprechen haben. Gefällte Todesurteile werden „unverzüglich“ vollstreckt, Revisionen hingegen von vornherein ausgeschlossen. Gemäß George Orwells Parabel auf die Geschichte der Sowjetunion („Farm der Tiere“, 1945) wird damit dem Revolutionsgrundsatz „Kein Tier soll ein anderes Tier töten“ von Stalin der Zusatz „– ohne Grund“ angefügt.

Denn die Methode zur Lösung der politischen Krise liegt gerade darin: in der „Aufdeckung“  weitläufiger „terroristischer Verschwörungen“, deren Planung, Organisation und Durchführung sich allesamt den alten Bolschewiki zuschreiben lassen. Die darauf folgenden Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1938 haben folglich vor allem ein Ziel: die alte Garde endgültig zu diskreditieren, ihr die politische und moralische Legitimation zum Handeln zu entziehen. Ein Milieu, dessen Substanz die Prozesse als eine hoffnungslos von Verrat und Korruption zerfressene zutage zu fördern haben, verlöre dann nämlich als Ganzes seine Existenzberechtigung. Dessen „Entfernung“  fiele auch nicht in die Zuständigkeit der Parteikontrollkommission (die höchstens Parteiausschlüsse verfügen kann), sondern – aufgrund des  „terroristischen“ Zuschnitts seiner Aktivität – in die der politschen Staatsanwaltschaft.

Bald schon überstürzen sich die Ereignisse. Am 25. Januar 1935 stirbt unter ungeklärten Umständen ein zweiter Oligarch – der erst 47jährige Vorsitzende der Staatlichen Plankommission,  Walerian Kujbyschew. Am 25. Mai verfügt das Zentralkomitee die Auflösung der „Vereinigung alter Bolschewiki“, exakt einen Monat später die der „Politischen Zwangsarbeiter und Verbannten“ – einer Vereinigung, die Artikel der alten Garde publiziert. Zur gleichen Zeit werden per Rundschreiben aus allen Bibliotheken und Lesesälen sämtliche Bücher von Leo Trotzki, Kamenjew und Sinowjew aus dem Bestand entfernt. In der Partei rückt Jeschow ins Sekretariat des ZK auf und übernimmt (neben seiner Aufgabe als Chef der Kaderabteilung) die Leitung der Parteikontrollkommission. Im Juni 1935 wird Andrej Wischinskij neuer Generalstaatsanwalt.

Indes machte auch Stalins Maßnahmenstaat  Fortschritte. Im Februar 1936 setzte Grigorij Moltschanow, Leiter der Geheimen Politischen Abteilung beim NKWD, eine Beratung mit vierzig hohen Untersuchungsoffizieren seiner Behörde an und setzte sie darüber in Kenntnis, daß der NKWD eine „großangelegte Verschwörung gegen das Leben der Partei- und Staatsführung aufgedeckt“ habe. Die Opposition, die sich aus Parteireihen rekrutiere, habe über die Jahre ein weitverzweigtes „terroristisches Netzwerk“ aufgebaut, dessen Ausmaß und Struktur es exakt festzustellen gelte. Da das Politbüro die vorliegenden Erkenntnisse für absolut zuverlässig halte, seien die Offiziere nicht verpflichtet, zu ermitteln, sondern lediglich – „mit allen möglichen Mitteln“ – die Schuldgeständnisse aus den Inhaftierten herauszuholen.

Ebendiese „Geständnisse“ liefern die Grundlage für den ersten Moskauer Prozeß, der gegen das „trotzkistisch-sinowjewische Terrorzentrum“ geführt wird und am 19. August 1936 beginnt. Darin spielt jener Teil der alten Garde eine Rolle, den man allgemein als Anhänger des 1929 ins Exil gezwungenen Stalin-Widersachers Leo  Trotzki definiert – eine Parteilinke mithin, die noch in den zwanziger Jahren für eine Fortsetzung der Revolution nach innen und außen ist und in den Dreißigern Stalins Führungsstil als Ursache für Defizite an Parteidemokratie namhaft macht. Neben ihren führenden Köpfen Kamenew und Sinowjew nehmen noch 14 andere ehemalige hohe Parteifunktionäre auf der Anklagebank Platz.

Fortsetzung in der nächsten JF

Foto: Das Schwein „Napoleon“ als Stalin in George Orwells „Farm der Tiere“: Die alte Garde der Bolschewisten wird in den „Säuberungen“ entmachtet und ermordet

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