© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

Deutschland und der Ernstfall
Die Euro-Krise ist erst der Anfang
von Peter Kuntze

Bei der von Griechenland ausgelösten Existenzkrise des Euro handelt es sich gleichsam nur um die Spitze eines Eisberges, denn dieser Krise liegen zwei sich gegenseitig bedingende und ergänzende Entwicklungsprozesse zugrunde. Sie dauern seit mindestens drei Jahrzehnten an und haben in nahezu allen westeuropäischen Ländern – lange vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die am 15. September 2008 mit der Insolvenz der US-Bank Lehman Brothers begann – die jeweilige Verschuldung so inflationär in die Höhe getrieben, daß vielerorts, auch in Deutschland, der Staatsbankrott droht.

Den einen Prozeß beschrieb die Londoner Times am 5. Mai, einen Tag vor der Unterhauswahl: „Großbritannien muß seine Identität neu bestimmen als Gesellschaft und als Partner in der Völkergemeinschaft. Die stillen Grundannahmen unserer Nation und ihrer Politik stehen in Zweifel.“ Es sei nicht gesichert, daß Großbritannien eine einträchtige Gemeinschaft bleiben könne, die über genügend Wohlstand verfüge, um ihren Bürgern Freiheit und Gerechtigkeit zu garantieren.

Den anderen Prozeß diagnostizierte die polnische Zeitung Rzeczpospolita wenige Tage später als „Degeneration des modernen Sozialstaates – eines Staates, in dem das Leben von Jahr zu Jahr besser sein soll. In dem weniger gearbeitet wird, dafür aber der soziale Schutz immer besser ist und Privilegien sowie Absicherungen ausgebaut werden.“ Beunruhigend, so resümierte das Blatt, sei die in vielen Ländern Europas verbreitete Mentalität, wonach Reichtum nicht eine Folge eigener Arbeit sei, sondern durch den Staat, die EU oder wen auch immer garantiert werden solle.

Brüchige nationale Identität durch Multiethnisierung und Multikulturalisierung auf der einen Seite sowie ein ausufernder Sozialstaat, um möglichst alle Bevölkerungsgruppen ruhigzustellen, auf der anderen Seite sind somit die beiden Seiten einer Medaille, deren Umlauf in das staatspolitische Verhängnis geführt hat. Bei dieser „Medaille“ handelt es sich um einen im Westen praktizierten Liberalismus, der parteiunabhängig ist und als Weltanschauung der „Moderne“ Eingang in fast alle gesellschaftlichen Organisationen, selbst in Kirchen und Gewerkschaften gefunden hat.

Mit seinem auch von der Brüsseler EU-Kommission zur Leitideologie erhobenen Werte-Relativismus hat jener Liberalismus solidarisch-identitäre Gemeinschaften in bindungslos-anonymisierte Gesellschaften verwandelt, die nur noch durch einen Dreiklang aus Schönreden, Wunschdenken und Gesundbeten, durch Selbstbetrug, Chuzpe und Realitätsverweigerung zusammengehalten werden – mithin durch nichts anderes als die bloße Simulation von Politik. Ihr Spiegelbild findet diese Haltung in einer medialen Spaßgesellschaft, die dem Motto des Vogelhändlers aus Mozarts „Zauberflöte“ frönt: „... stets heiter, lustig, hopsassa ...“

Unter den Parolen von „Weltoffenheit“ und „Toleranz“, die jeden Kritiker als provinziell und borniert verstummen lassen sollen, wurden und werden Gruppenegoismen und Hedonismus bedient – sei es durch weitgehend ungesteuerte Einwanderungspolitik, sei es durch Gleichstellung diverser Formen gestörter Sexualpräferenz, die dem so bündigen wie treffenden jamaikanischen Sprichwort hohnsprechen: „God made Adam and Eve, not Adam and Steve.“ In seinem Antidiskriminierungs-Furor erhebt der Relativismus mittlerweile selbst die abstrusesten Anliegen zu einem „Menschenrecht“. So lehnte ein britischer Richter ein von der Staatsanwaltschaft gefordertes Verbot von Baggy-Hosen ab, mit dem ein Achtzehnjähriger wegen eines Überfalls, wegen Drogenbesitzes und eines Diebstahls hätte bestraft werden sollen. Dem Jugendlichen das Tragen der tief herabhängenden Hose, die einen Blick auf die Unterwäsche freigibt, zu untersagen, würde dessen „Menschenrechte“ verletzen, erklärte der Richter (Süddeutsche Zeitung, 6. Mai 2010).

Das Pendant des gesellschafts- und kulturpolitischen Relativismus ist ein Egalitarismus, der statt auf dem leistungsbezogenen Prinzip „Jedem das Seine“ auf dem urchristlich-kommunistischen Grundsatz „Allen das Gleiche“ beruht. Beides, Egalitarismus und Relativismus, der eine Hierarchisierung der Werte ablehnt, sie statt dessen für gleich gültig, also für gleichgültig erklärt, sind die wesentlichen Triebkräfte eines Sozial- oder Linksliberalismus, der in fast allen westeuropäischen Staaten Politik und Medien dominiert. Wo dies nur eingeschränkt der Fall ist (Italien unter Berlusconi) oder gar rückgängig gemacht zu werden droht (seinerzeit in Österreich durch Regierungsbeteiligung der FPÖ), erhebt sich ein verbales Trommelfeuer, bis als letzte Konsequenz gar mit politischen und wirtschaftlichen EU-Sanktionen gedroht wird.

Welche Verheerungen der sogar auf das Bildungswesen angewandte Egalitarismus anrichtet, zeigt sich besonders eindringlich am Trauerspiel deutscher Schulpolitik. Trotz seit den sechziger Jahren ständig steigender Ausgaben sind die Resultate immer bestürzender: Verließen früher junge Erwachsene die Schulen, so sind es jetzt mehrheitlich orientierungslose „Kids“, die weder lebenstüchtig noch studierfähig oder berufstauglich sind. Ursache ist die Abschaffung des Leistungsgedankens zugunsten einer Gerechtigkeitsrhetorik, die vorgaukelt, in einer „Schule für alle“ ließen sich Faktoren wie Intelligenz, natürliche Begabung und soziale Herkunft so ausgleichen, daß im Prinzip jeder die Hochschulreife erwerben kann. In diesem Sinne hat in Bremen der rot-grüne Senat sogar die Semantik bemüht, so daß es ab dem Schuljahr 2011/12 in der Hansestadt durch Umbenennung der Gesamtschule nur noch Gymnasien und „Oberschulen“ geben wird (Flensburger Tageblatt, 5. Mai 2010).

Die bayerische SPD ist noch einen Schritt weiter gegangen. Auf einem Parteitag hat sie gefordert, das Gymnasium zugunsten einer einzigen Schulart abzuschaffen. Auf dieser Gemeinschaftsschule sollen die Jugendlichen in weiteren drei Schuljahren die Hochschulreife erlangen oder eine berufliche Ausbildung absolvieren, die später ebenfalls zum Studium berechtigt. Klassen im herkömmlichen Sinn wird es nicht mehr geben, vielmehr sollen stärkere und schwächere Schüler jahrgangsübergreifend gemeinsam unterrichtet und Leistungsunterschiede durch individuelle Förderung ausgeglichen werden (Süddeutsche Zeitung, 10. Mai 2010).

Da sich mittlerweile auch die CDU an der Demontage des nach Leistung gegliederten Bildungssystems und an der Einrichtung von Gesamtschulen beteiligt, ist die Fortdauer der Misere absehbar: Im globalen Wettbewerb wird Deutschland weiter zurückfallen, denn nicht mit Mittelmaß-Jahrgängen, sondern nur mit hochqualifizierten Fachkräften kann ein rohstoffarmes Land gegen aufsteigende und erfolgshungrige Nationen wie China und Indien bestehen.

Mit dem Ideenmix aus Werte-Relativismus und Egalitarismus haben Union, SPD, FDP und Grüne geistig und finanziell eine Staatskrise herbeigeführt, deren Bewältigung sie immer wieder aufgeschoben haben, so daß das Land jetzt quasi mit dem Rücken zur Wand steht. Ein Schuldenberg von fast 1,8 Billionen Euro, aufgeblähte und nicht mehr finanzierbare Sozialsysteme, taumelnde Bundesländer, bankrotte Städte und Kommunen – der Ernstfall, den die politische Klasse stets verdrängt hat, ist da und erfordert, was aus Feigheit und Schwäche jahrelang unterblieben ist: Entscheidungen. Auf der wahren Agenda 2010 stehen schmerzhafte Einschnitte statt weiterer Umverteilungen mit lockerer Hand, rigorose Benennungen dessen, was dem Gemeinwohl nutzt und was ihm schadet – mithin die radikale Umkehr aller bisherigen Politik.

Daß dies den im Bundestag vertretenen sechs Parteien gelingen wird, darf mit Fug bezweifelt werden. Da unterdessen sogar Die Linke dem demokratischen Spektrum zugerechnet wird und auf kommunaler, auf Länder- und wohl bald auch auf Bundesebene als koalitionsfähig gilt, ist keine Alternative in Sicht. Während in anderen europäischen Staaten echte konservative Positionen in Politik und Medien offen zur Geltung kommen, werden sie in Deutschland als „rechtspopulistisch“ und „rechtsextremistisch“ denunziert. „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ – mit dieser Antifa-Parole wird alles kontaminiert, was entfernt an nationalsozialistisches Gedankengut erinnert, tatsächlich aber jahrhundertealtem konservativen Ideenfundus entstammt. So sind auch weder das ABC noch das Einmaleins schon deshalb falsch, weil Nationalsozialisten oder Faschisten sie ebenfalls zur Grundlage des Schreibens und Rechnens gemacht haben. Das wahre Ziel derer, die die Vergangenheit für die Gegenwart instrumentalisieren, ist daher vielmehr, bestimmte Denkverbote zu verhängen.

Der von Bundeskanzler Schröder im Oktober 2000 ausgerufene „Kampf gegen Rechts“ gilt längst nicht mehr nur dem rassenideologischen Narrensaum verbohrter Neonazis, sondern jedem, der Positionen verficht, die auf deutscher Parlaments- und Regierungsebene keinen Ausdruck mehr finden:

-Wer, ausgehend von der natürlichen Ungleichheit der Menschen, für Leistung, Differenz, Elite und Meritokratie eintritt;

-wer, ausgehend von der ethnischen Pluralität, jedem Volk, auch dem deutschen, das Recht auf die eigene Heimat, Geschichte, Sprache, Kultur, Religion etc. einräumt und – im Gegensatz zum „One World“-Konzept – für die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eintritt.

Im Umkehrschluß fällt dem „Kampf gegen Rechts“ somit anheim, wer aus der Gleichheit vor dem Gesetz keine soziale Gleichheit und keine bildungsmäßige Gleichmacherei ableitet; wer nicht die Homogenisierung der Welt anstrebt und nicht mit humanitären Interventionen „universale Werte“ implantieren will: mithin jeder, der Relativismus und Egalitarismus für fatale Irrwege hält.

So schwerwiegend wie in der Innenpolitik, so gravierend sind die zu treffenden Entscheidungen auch in der Außenpolitik. Die sich im Zuge der Euro-Krise abzeichnende Transferunion droht nicht nur Deutschlands Finanzkraft und damit die wirtschaftliche Leistung seiner Bürger zu vergemeinschaften, sondern letztlich seine Existenz als Nationalstaat zu zerstören. Damit aber stellt sich in aller Dringlichkeit die 1932 von Carl Schmitt, dem Gottseibeiuns aller Linken und Liberalen, aufgeworfene Frage nach der Unterscheidung zwischen Freund und Feind.

Eine feind- und gewaltfreie Welt, wie sie sich kosmopolitische und internationalistische Menschheitsbeglücker erträumen, wird – allen Globalisierungs­tendenzen zum Trotz – eine Vorstellung lebensfremder Utopisten bleiben. Weltgeschichte ist keine Heilsgeschichte, sondern ein stetes Ringen um Macht und Einfluß. Angesichts des Niedergangs der USA und Europas und des gleichzeitigen Aufstiegs neuer Mächte wie China und Indien haben die Erwartungen mancher Linksliberaler denn auch einen empfindlichen Dämpfer erhalten. So setzt Zeit-Autor Jan Ross seine Hoffnungen nicht mehr auf den Westen, der sich durch anmaßende Politik bei den Ländern des Südens diskreditiert habe. Besonders die westliche Menschenrechtsmoral stehe bei ihnen unter dem Verdacht verkappter Interessenpolitik; dies hatte Carl Schmitt bereits vor achtzig Jahren als Heuchelei der liberalen Mächte angeprangert: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“

Dennoch hält Jan Ross seinen Glauben an die säkulare Erlösung aufrecht: Das Projekt der aus dem Westen stammenden Demokratie, so macht er sich und seinen Lesern Mut, sei eine „universale Geschichtstendenz und Menschheitshoffnung“ (Die Zeit, 6. Mai 2010). Das messianische Werk sollen jetzt jene nichtwestlichen Länder vollbringen, die sich bereits auf den demokratischen Weg gemacht haben. In einer Serie von Beiträgen will die Zeit daher alle Hoffnungsträger „jenseits des Westens“ vorstellen, die sie in einem neuen Systemwettbewerb sieht: „Das Ideal der Freiheit ist nicht mehr unangefochten. China mit seinem dynamischen Markt bei gleichzeitiger autoritärer Kontrolle scheint ein alternatives erfolgreiches Entwicklungsmodell zu bieten – ein Modell, das von Vietnam bis Syrien Bewunderer und Nachahmer findet. Das ist die eigentliche Herausforderung für die Demokratie heute.“ Im 21. Jahrhundert werde es daher auf Länder wie Indien ankommen.

Daß die Demokratie nach westlichem Muster wirklich die letzte Antwort der Geschichte ist, läßt sich freilich mit Fug und Recht bezweifeln, denn jede Epoche, so sah es schon Leopold von Ranke, „ist unmittelbar zu Gott“. Im übrigen bestimmen in Staaten wie Indien, Thailand und den Philippinen jenseits parlamentarischer Usancen noch immer Familienclans die Politik; und Demokratie nur an Wahlvorgängen zu messen, heißt einem „Stimmzettel-Fetischismus“ (Peter Scholl-Latour) zu frönen. Schließlich kommt es nicht auf die Anzahl der Parteien an, sondern auf die Interessen, die sie vertreten.

 

Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über „Feuilleton und Realität: Panik unter Linken“ (JF 11/10).

Foto: Westportal des Reichtags mit fiktivem Gleichheitspostulat: Egalitarismus und Relativismus müssen als fatale Irrwege betrachtet werden

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen