© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/10 04. Juni 2010

Im Schutz der Wagenburg
Besuch in Südafrika: Zweierlei Welten Die Afrikaaner-Siedlung Orania hat wenig mit dem Rest des Landes gemein
Billy Six

Wenn die Juden gehen, ist es an der Zeit, den Ort zu verlassen aber wenn die Portugiesen wegfahren, ist es bereits zu spät, um abzureisen. Der Witz des weißen Touristenführers am von Hand gegrabenen Diamantenloch in Kimberley erheitert die kleine Besuchergruppe. Dabei hat diese bissige Ironie des Einheimischen längst nicht mehr nur mit der Geschichte dieses einstigen Glücksritternests in der Mitte Südafrikas zu tun, sondern weist auf eine bedrohliche Zukunftsvision für das gesamte Land.

Der lusitanische Kolonistenwiderstand in Angola und Mosambik wurde so weit getrieben, daß es zu einer Revolution im Mutterland kam, die sämtliche Portugiesen zur überstürzten Flucht aus ihren einstigen Besitzungen zwang. Was die jüdische Abwanderung anbelangt, so ist nur auf die Emigration der Nachfahren Abrahams zu verweisen, welche bereits weit vor 1994 einsetzte und 1999 einen weiteren Höhepunkt mit dem Umzug der De Beers-Konzernzentrale von Johannesburg nach London erlebte.

Wo immer sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Wind des Wandels zur afrikanischen Selbstbestimmung durchsetzte, führte sie zur dramatischen Reduzierung der weißen Siedler. Auch in Südafrika ist die Zahl der Weißen von 1990, dem Jahr der Freilassung des ANC-Vorkämpfers Nelson Mandela, bis heute von 5,6 auf 4,5 Millionen gesunken.

Doch wenn es eine Gruppe gibt, die sich mehr als andere Europäischstämmige an den staubigen Boden des Schwarzen Kontinents festkrallen wird, dann sind es die Buren, jener weiße Stamm Afrikas, wie es selbst der neue Präsident Jacob Zuma zum Ausdruck brachte.

Diese Nachfahren niederländischer, belgischer, französischer und deutscher Einwanderer, die sich nach der Gründung Kapstadts 1652 von Jahrhundert zu Jahrhundert kulturell immer mehr von ihrem Ursprung abwandten und mit Afrikaans heute gar ihre eigene Sprache sprechen, haben seit dem Machtverlust ihrer Repräsentanten keinen einheitlichen Weg in die Zukunft gefunden. Viele zogen sich in ummauerte Wohnsiedlungen an den Stadträndern zurück, andere trieb es aufs Land, nicht wenige verließen ihre Heimat ganz, und manch einer endete gar auf der Straße.

Ein Ausnahme-Beispiel dieser neuen Selbstfindung stellt die 3.500 Hektar große Halbwüstenkolonie Orania dar, welche sich entlang des Oranje-Flusses im Herzen Südafrikas seit 1990 herausgebildet hat. Von Kimberley sind es nur 150 Kilometer Streckenführung.

Mit der mir in Deutschland eingeimpften Vorstellung einer Festung gewaltbereiter Apartheidkämpfer hat diese ländliche Siedlung bereits auf den ersten Blick nichts zu tun. Der Berufspolitiker Carel Boshoff junior hat mich gleich in seinem einstöckigen Flachbau aus Stein willkommen geheißen, als ich mich nach einem Zeltplatz erkundigen wollte. Die hier einflußreiche Familie mit ihren vier Kindern setzt große Hoffnungen in dieses privatwirtschaftlich organisierte Projekt, das bereits fast 800 Einwohner beherbergt, und zeigt mir stolz vor Ort geschaffene Produkte wie Pekannüsse, Marmelade oder Käse.

Mit jenen stämmigen durchgeknallten Afrikaanern, die ich bisher auf vielen teils abgelegenen Großfarmen getroffen hatte, und die sich sowohl mit ihrer Abneigung gegen die Schwarzen wie auch mit ihrer urigen Naturverbundenheit hervortaten, haben diese bedachten Menschen nichts zu tun. Im Gegenteil: Durch ihre hochgradig intellektuellen Ausführungen, übrigens ein perfektes Englisch, fühle ich mich schon fast wieder nach Europa zurückversetzt. Den schwarzen Staatsmännern Nelson Mandela und Jacob Zuma, die das Projekt verhalten positiv kommentierten, zollen sie Respekt. Sogar der Besuch des notorischen Krawallmachers Julius Malema, dem Jugendführer der Regierungspartei ANC, bekannt für seine rassistischen Ausdrücke und Gesetzesübertretungen, war unter Boshoffs Moderation im März konstruktiv verlaufen.

Der größte Unterschied zum Rest des Landes, in dem ich mich bereits einige Wochen aufgehalten habe, ist ohne Zweifel das Gefühl von Sicherheit. Während ich ohne jede Anspannung über Oranias saubere Betonstraßen wandere, an deren Rändern mit Hilfe moderner Bewässerung hohe Bäume und blühende Blumenbeete gepflanzt wurden, kommen mir ganz andere Erinnerungen in den Sinn. Im Zentrum Johannesburgs wurde ich Zeuge eines plötzlichen Überfalls von fünf bewaffneten Männern auf ein an der Ampel stehendes Auto, die ohne Skrupel am hellichten Tage die Scheibe einschlugen und die beiden Insassen bedrohten.

Die umstehenden schwarzen Passanten interessierten sich einzig dafür, ob auch sie einen Gewinn aus der Situation schlagen könnten. Die Polizei war ein paar Straßen weiter in ein heilloses Chaos eingebunden, weil ein wild rasendes Fahrzeug ein Kind überrollt und dann Fahrerflucht begangen hatte. Beim Besuch des einstigen multikulturellen Nobelviertels Hillbrow fühlte ich mich angesichts der kaputten Straßen, des Schlamms, des Mülls, der eingeschlagenen Fensterscheiben und nicht zuletzt der wenig freundlichen Passanten in eine Art Alptraum versetzt.

Bereits an meinen ersten Tagen in der Küstenstadt Durban, die wie alle anderen Großräume in der Nacht wie leergefegt ist, war ich beim Abwaschhelfen in einer kirchlichen Armenküche Zeuge eines unwürdigen Vorgangs geworden. Die bis zu 50 Begüterten waren fast ausschließlich junge und kräftige Männer gewesen, die sich nach Beendigung ihrer Speise nicht einmal die Mühe machten, die Teller und das Besteck zurückzubringen. Mit dem Pfarrer dieses von Stacheldraht umzäunten Gotteshauses konnte man nur über eine Sprechanlage kommunizieren. Inmitten dieser Szene fuhr eine über 80 Jahre alte schwarze Ordensfrau das Menschengewühl an: Was habt ihr aus unserem Land gemacht?

Selbst die stark korrumpierte Polizei gibt an, daß von 1994 bis 2006 420.000 Menschen in Südafrika ermordet wurden, darunter auch zwischen 1.000 und 2.000 weiße Farmer verglichen mit den vereinzelten Todesfällen im Zuge der simbabwischen Farminvasionen muß man sich zumindest in diesem Punkt mit der zynischen Behauptung abfinden, im Reich des Robert Mugabe herrschten vergleichsweise zivilisierte Zustände.

Angesichts der Millionen von Vergewaltigungsfällen zwischen dem Kap und dem alten Transvaal ist es für eine südafrikanische Frau statistisch wahrscheinlicher, Opfer sexueller Gewalt zu werden, als lesen zu lernen. Am unfaßbarsten aber stellen sich immer noch jene Exzesse dar, die sich vor allem nachts abspielen, wenn gut bewaffnete Banden in Häuser einbrechen und ihre Opfer, vornehmlich Kinder, zum Sex zwingen, um ihrem mysteriösen Aberglauben zu huldigen, eine solche Tat könne von der um sich greifenden Aids-Seuche heilen.

Um so überraschender erscheint die Reaktion einer Gruppe von acht Schülern im Alter von 14 bis 18 Jahren, denen in Orania die Möglichkeit gegeben ist, sich nach eigener Zeitplanung den Unterrichtsstoff autodidaktisch beizubringen: Irgendwie vermissen wir doch die Stadt, wo das moderne Leben pulsiert, sagen diese freundlichen Jugendlichen, die sich von ihren Altersgenossen in Europa nicht wirklich zu unterscheiden scheinen. Ein wenig fehlt ihnen wohl die Welt aus Disko, Alkohol und Amusement, der Kick des allgegenwärtigen Risikos. Orania, dieses Farmer-Archipel, das ist auch Langeweile für junge Menschen.

Mit Genehmigung der Lehrerin lassen sich die zwei Mädchen und fünf Jungen dafür begeistern, mir die Umgebung zu zeigen. Bei unserer Wanderung über die wackeligen Steine dieser mit gedrungenem Gestrüpp bewucherten Felsenlandschaft der Oberen Karoo entdecken wir einige der von Oranias Verwaltung beworbenen Buschmann-Zeichnungen. Auf dem Gipfel eines Hügels schweift der Blick über die kleine Häusersiedlung und die bis an den Horizont reichenden Farmen dieses flachen Landstrichs. Um uns herum stehen mehrere Steinfiguren aus der Geschichte des Afrikaanertums, darunter auch das Symbol der Orania-Gemeinschaft: der die Arme hochkrempelnde Arbeiterjunge.

Orania, so sagen es die hochstudierten Gründungsväter, zu denen neben Carel Boshoff der Archäologe Mavie Oppermann oder der Mediziner John Strydom gehören, könne seine Unabhängigkeit nur dann erreichen, wenn man selbst bereit sei, alle Arbeiten zu verrichten. Dem Argument rechtsextremer Gruppen, die Schwarzafrikaner seien von Gott für die niedrige Arbeit geschaffen worden, widersprechen sie damit heftig.

Den jungen Leuten, denen die Vorteile der modernen Wohlstandsgesellschaft wohlbekannt sind, mag das Ganze als Rückschritt in vergangene Jahrhunderte vorkommen. Gleichwohl wissen auch sie, daß es selbst bei bester Ausbildung mit den Chancen auf einen Arbeitsplatz in der Regenbogennation Südafrika für Personen weißer Hautfarbe nicht zum besten steht.

Das bereits unter Präsident Thabo Mbeki beschlossene Schwarze Wirtschafts-Bemächtigungs-Gesetz schreibt vor, Nicht-Weiße bei der Vergabe von Arbeitsplätzen zu bevorzugen, unabhängig von ihrer Qualifikation. Die Nicht-Beteiligung der schwarzen Südafrikaner an höheren Stellen in der Wirtschaft soll schnellstmöglich gesühnt werden.

Vor der überlebensgroßen Büste des 1966 ermordeten weißen Premierministers Hendrik Verwoerd, der im vom Schrecken des Zweiten Weltkriegs geprägten Europa als Rassist und NS-Sympathisant verunglimpft wurde, stellt sich die Frage nach der Zukunft dieses weißen Volkes, das sich im Streben um nationale Selbstverwirklichung bereits in die entlegenen Winkel der Ödnis zurückzieht.

In den nächtelangen Gesprächen mit den Boshoffs, welche die Nachkommen jenes Hendrik Verwoerd sind, war mir klar geworden, wie differenziert die Apartheid-Bewegung sich einst darstellte. Während der Premier tatsächlich die Vision der Trennung vollenden, den Zulu, Xhosa, Sothu, Tschwana und anderen ein eigenes territoriales Staatsgebiet zubilligen wollte, gab es innerhalb der Nationalen Partei noch eine andere Fraktion, die von der Prämisse ausging, ein Schwarzer könne niemals ein Land regieren. Und die Abtretung eigener Großfarmen und Kulturstätten sowie der Verzicht auf die schwarzen Billigarbeiter das war schon gar nicht vorstellbar. Vielleicht erklärt das viel eher die zwei Attentate auf den Regierungschef, die in beiden Fällen mit der Geisteskrankheit der Angreifer begründet worden waren.

So ist das Orania-Projekt selbst unter den Buren heute nicht unumstritten und dies aus unterschiedlichsten Motiven. Diesem Volk, so kann wieder festgehalten werden, wird einmal mehr der Geist des Schwarzen Kontinents zum Verhängnis. Ihm fehlte schon immer, woran es vielen Völkerschaften Afrikas mangelt: Einigkeit.

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