© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/10 04. Juni 2010

Abendland in Gefahr
Können wir von Byzanz lernen?
von Rolf Stolz

Läßt sich aus der Geschichte lernen? Nun, sicher nicht in dem Sinn, wie wir mathematische Gleichungen und statistische Wahrscheinlichkeiten einmal erfassen und dann in neuen Zusammenhängen anwenden können. Eher schon entspricht dieser Erkenntnisgewinn dem Lebensgefühl eines Menschen, der reifer geworden durch einen Zuwachs an Erfahrungen und Blessuren sich gestärkt und sicherer als der blutige Anfänger an eine neue Situation heranwagt. Die Geschichte ist immer eine Kombination aus alten Erblasten und aus neuen Überraschungen weder unbegrenzt in ihren Möglichkeiten, noch festgelegt auf eherne Gleise der Entwicklung. Auf historischem Gebiet gilt im übrigen für alle Parallelen, daß Parallelität allenfalls ungefähr und mit beträchtlichen Abweichungen zutrifft. Es geht immer um Ähnlichkeiten, nie um Gleichheiten. Daher geht es stets um ein kritisches und schöpferisches Lernen, nie um ein simples Übernehmen.

Läßt sich von Byzanz lernen? Von einem Reich, das vor anderthalb Jahrtausenden seinen Anfang nahm und vor mehr als einem halben Jahrtausend als Restgebilde, als Stadtstaat unterging? Nun, wenn man hinreichend die so andersartigen materiellen, ideologischen und spirituellen Bedingungen berücksichtigt und undogmatisch genug vorgeht, hat dies durchaus eine Chance. Man darf dabei nie vergessen, daß die Dinge immer mindestens zwei Seiten haben: Eine bestimmte Politik kann ein Problem akut lösen und mittelfristig zehn neue erzeugen. Andererseits ist es im geschichtlichen Raum unmöglich, jemals etwas völlig Richtiges zu tun. Lernen läßt sich allerdings nicht zuletzt auch vom Scheitern des Gutgemeinten und vom negativen Beispiel.

Rekapitulieren wir kurz die Eckdaten der byzantinischen Geschichte: 330 n. Chr. wird die neue Reichshauptstadt Byzantium, später Konstantinopolis, durch Konstantin den Großen (gestorben 337) eingeweiht. 395 erfolgt die Reichsteilung in West- und Ostrom. Durch Eroberung des Vandalenreiches in Nordafrika 534 und des Ostgotenreiches in Italien 553 werden Afrika und Italien oströmische Provinzen. Unter Justinian (527565) werden einerseits imperiale Größe und kulturelle Blüte erreicht, andererseits verschärfen sich militärische und wirtschaftliche Krisen. Unter Herakleios (610641) erfolgt die Zurückgewinnung Syriens, Palästinas und Ägyptens von den Persern, aber ab 635 gehen diese Gebiete an die Araber bzw. an den Islam verloren (Schlacht am Jarmuk 636, Fall Alexandrias 646). Unter Konstantin IV. (668685) und Leon III. 718 gelingt die Abwehr arabischer Angriffe auf Konstantinopel, über Jahrzehnte besteht sogar eine in der islamischen Geschichtsschreibung stets totgeschwiegene Tributabhängigkeit der Araber. Seit 751, als Ravenna fällt, gehen die italienischen Gebiete an die Langobarden verloren. 828 erobern die Araber Kreta (960 wird es zurückerobert) und setzen sich ab 831 in Sizilien fest. 904 wird Thessaloniki durch die Araber geplündert. 958 erobert Byzanz Mesopotamien. 1054 tritt die endgültige Kirchenspaltung in katholische Papstkirche und orthodoxe Patriarchenkirche ein.

1071 unterliegen die Byzantiner den Türken bei Manzikert, was das Ende der byzantinischen Herrschaft über Armenien und das Vordringen der Seldschuken in Klein­asien zur Folge hat. Kroatien und die letzten italienischen Stützpunkte gehen verloren; Sozial- und Wirtschaftsreformen scheitern und die Währung verfällt. 1096 beginnt der erste Kreuzzug, der 1099 den Arabern Jerusalem entreißt. 1203/04 wird Konstantinopel durch die Kreuzritter erobert und geplündert, das Lateinische Kaiserreich errichtet und das Reich aufgeteilt. Gleichzeitig entsteht eine griechische Widerstandsbewegung, vor allem in Nikaia, Epirus und Trapezunt, die 1261 Konstantinopel zurückerobert. 1389 werden die Serben von den Osmanen auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) vernichtend geschlagen. 1430 fällt Thessaloniki. Am 29. Mai 1453 wird Konstantinopel durch Sultan Mehmed II. erobert.

Vergleiche unserer Situation mit Byzanz haben Konjunktur, was für sich genommen weder für noch gegen die Angemessenheit dieser Bezugnahmen spricht. Mal wird der erweiterte Westen als Ganzes (die von christlich-jüdischer Tradition wie von Reformation, Renaissance und Aufklärung geprägte europäisch-amerikanisch-russische Zivilisation), mal Nordamerika plus EU-Europa, mal Europa, mal Deutschland als das Byzanz unserer Tage gesehen. Fraglich bleibt dabei, ob man sich mit dem bedrohten Byzanz des achten Jahrhunderts, mit dem ruinierten und halb zerschlagenen Reich des dreizehnten Jahrhunderts oder mit dem kurz vor seinem Ende angelangten traurigen Rest am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts identifizieren will.

Fraglich bleibt auch, ob man sich als so ausweglos verloren sieht, wie Byzanz es spätestens seit 1430 war. Fest steht jedenfalls, daß der Westen als Ganzes in großen Schwierigkeiten steckt und mächtigen Feinden gegenübersteht. Es bedarf keiner Prophetengabe, um vorherzusagen, daß die Völker und Staaten des Westens ohne grundlegende Änderungen der Weichenstellungen mittelfristig verloren sind. Bei fortgesetztem Laisser-faire, wenn wir es laufen lassen, wie es halt von selbst läuft, werden die großen Gegenmächte (der islamische Block mit seinen türkischen, arabischen, iranischen, pakistanischen und südostasiatischen Fraktionen; die drei asiatischen Großmächte China, Indien und Japan) sich in welcher Konstellation auch immer auf ganzer Linie durchsetzen.

Uns Heutigen kann Byzanz vor allem in den folgenden sechs Bereichen einen Anstoß zu Nachdenken, Überprüfung und Umorientierung geben:

1. Byzanz konnte sich nie für eine Selbstbeschränkung auf eine nüchterne, realistische Stoßrichtung der Außenpolitik festlegen. Zunächst wurde unter Justinian alle Kraft auf die Wiedereroberung des Westens gerichtet, die nach großen Anfangserfolgen scheiterte, dann wurde mit ähnlichen Ergebnissen eine ziellose Expansionspolitik Richtung Süden und Osten verfolgt. Die Siege über die Perser waren Pyrrhussiege, die es den Arabern als den lachenden Dritten erlaubten, diese beiden Widersacher getrennt niederzuringen und den Islam als arabische Exklusivreligion durchzusetzen gegen Christentum und Zarathustrismus. So wie Deutschland in zwei Weltkriegen an seiner Unfähigkeit scheiterte, einen Mehrfrontenkampf zu vermeiden oder aber diesen erfolgreich zu führen, scheiterte Byzanz an seiner Selbstüberschätzung und an allzu vielen Feinden. Auch das heutige Deutschland vergeudet und zersplittert im Schlepptau der USA und unter der Fuchtel Brüssels seine Kräfte zwischen Kosovo und Hindukusch.

2. Vor allem nach der Rückeroberung Jerusalems 630 setzten sich in der Ostkirche dogmatische Fanatiker durch, die mit Unterstützung der Staatsmacht Andersgläubige (etwa die Juden) und Abweichler verfolgten. Die Diskriminierung der Kopten in Ägypten etwa erleichterte es den Arabern 640 beträchtlich, dieses Land zu erobern, da sie von der einheimischen Bevölkerung zunächst als Befreier von den griechischen Besatzern gesehen wurden. Ob im Irak oder in Afghanistan heute: Die westlichen Truppen haben durch unverzeihliche Fehler selbst dafür gesorgt, daß sie als Unterdrücker erlebt werden. Und auch in Deutschland selbst man denke nur an das Gefasel Lafontaines vom sozialen Mitgefühl des Islams gibt es reichlich Demagogen und Unzufriedene, die im Islam das Heil und die Verheißung eines besseren Lebens entdecken. Andererseits fehlt eine entschiedene Integrations- und Assimilationspolitik gegenüber den neuen Deutschen.

3. Im siebenjährigen Krieg um Konstantinopel von 673 bis 679 siegten die Byzantiner vor allem durch das von dem Syrer Kallinikos erfundene griechische Feuer, das der Byzantinist Berthold Rubin zu Recht die nukleare Waffe jener Tage nannte, und durch ihre taktisch überlegene Marine. 1453 dagegen waren die Angreifer nicht allein zahlenmäßig bei weitem (rund um das Zwanzigfache) überlegen, sondern besaßen eine hochmoderne Artillerie, die Bresche auf Bresche in die ohnehin vielfach vernachlässigten Mauern riß. Schon unter den Angeloi-Kaisern am Ende des zwölften Jahrhunderts verfiel die byzantinische Armee und existierte kaum noch eine Flotte.

Jene Epoche, in der der Westen unangreifbar war und sich damit beschäftigen konnte, sich in zwei weltweiten Kriegen und zahlreichen kolonialen und neokolonialen Kämpfen zu erschöpfen, neigt sich unwiderruflich dem Ende zu. Die antiwestlichen Kräfte rüsten immens auf zum Teil verkaufen die westlichen Regierungen und Konzerne den islamischen Staaten die neuen Waffen, mit denen diese die verhaßten Ungläubigen vernichten können.

4. Kennzeichnend für die Zeit des Niedergangs ist die Kaiserin Irene, die 780 für ihren minderjährigen Sohn Konstantin VI. Regentin wurde, ihn 797 absetzen und blenden ließ, die Verteidigung des Reiches vernachlässigte und durch Steuergeschenke auf Kosten der Staatsfinanzen ihre Popularität zu erhöhen versuchte. Wer nicht an die Zukunft denkt, der wird bald große Sorgen haben, das wußte schon Konfuzius. Nur unsere heutigen Regenten, die zwar weniger mit Gift und Folter, dafür um so wirksamer mit Lügen und Meinungsmache operieren, wissen das nicht und wollen es nicht wissen. Ob es sich um die katastrophale Bevölkerungsentwicklung oder die irrationale Zuwanderungspolitik handelt, stets wird nur kurzatmig im Rahmen von Wahlperioden agiert und statt einer Grundsanierung Fassadenkosmetik betrieben.

5. Immer wieder liefen widerstrebende Gruppen, die von den Kaisern zwangsweise in ferne Gegenden umgesiedelt und zum Wehrdienst zwangsverpflichtet wurden, zu den Arabern über. Die sozialrevolutionäre Bewegung Thomas des Slawoniers, die 821 bis 823 Konstantinopel belagerte, wurde aktiv vom Kalifat unterstützt. Andererseits hatte sich beispielsweise der 695 gestürzte Kaiser Justinian II. mit einem der gefährlichsten Reichsfeinde, dem Bulgarenherrscher Tervel, verbündet, um 705 für einige Jahre erneut die Macht in Konstantinopel an sich zu reißen. Auch heute finden wir nicht nur bei Links- und Rechtsextremen reichliche Beispiele für Teufelspakte vor allem mit dem Islamismus, dem die einen seine Feindschaft gegen die USA, die anderen seine blinde Gläubigkeit positiv anrechnen. Längst hat der Islam begonnen, von desolaten Lumpenproletariern bis zu desorientierten Halbintellektuellen quer durch die deutsche Gesellschaft Bündnispartner zu rekrutieren.

6. Schon Zeitgenossen sahen den militärisch gegen die Araber siegreichen, aus Syrien stammenden Kaiser Leon III. (717741), der 730 ein mit Stangen und Brecheisen durchgesetztes Bilderverbot (Ikonoklasmus) erließ, als sarazenisch gesinnt, denn er vollzog nach, was der Kalif Jazid II. zehn Jahre vorher für seine Untertanen (auch für die Christen!) verordnet hatte. Ein Jahrhundert lang war der blutige Streit zwischen Bilderstürmern und Bilderverehrern im byzantinischen Reich alles andere als eine innerkirchliche Streiterei über Riten und Buchstaben der heiligen Texte. Im Kern ging es um einen Vernichtungskampf zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wie dem Klerus oder der Aristokratie und um den Gegensatz zwischen eher bilderfeindlichen Orientalen und Armeniern einerseits und eher bilderverehrenden Griechen andererseits. Der zeitweilige Sieg der Bilderstürmer entzweite westliche und östliche Kirche weiter und begünstigte die Verbindung zwischen dem Papsttum und den Frankenherrschern.

Vom siebten Jahrhundert an wurde der byzantinische Staat des weiteren zerrissen vom Kampf gegen die zunächst pazifistische, später auch militärisch agierende Sekte der Paulikianer, die ein gnostisches Weltbild mit sozialpolitischen Gleichheitszielen verband. Diese Sekte, die in der Mitte des neunten Jahrhunderts im Bund mit dem islamischen Emir von Melitene ein großes Gebiet beherrschte, wurde erst durch Massenhinrichtungen 843 und durch ihre totale militärische Niederlage 871 niedergerungen.

Auch heute hat es fatale Folgen, wenn sowohl die westlichen Demokratien als auch demokratische Oppositionsbewegungen sich zur Freude und zum Nutzen ihrer Feinde in einer Art permanentem kalten Bürgerkrieg gegenseitig schwächen und aufreiben. Nicht zuletzt die islamkritische Bewegung wird gefährdet durch Separatisten und Puristen, die nur mit sich selbst zusammenarbeiten wollen. Nur im Bündnis von linken und rechten Demokraten, von Christen aller Konfessionen und Atheisten, von Amerikabegeisterten und Kritikern der amerikanischen Dominanz wird diese Bewegung eine Chance haben und die Spalter, die zumindest objektiv das Geschäft unserer Feinde besorgen, isolieren und auf Null bringen können.

 

Rolf Stolz ist ständiger Kolumnist der JUNGEN FREIHEIT. Er war Mitbegründer der Grünen und lebt heute als Publizist in Köln.

Foto: Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453:Wer nicht an die Zukunft denkt, der wird bald große Sorgen haben, das wußte schon Konfuzius.

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