© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/10 04. Juni 2010

RBB-Dokumentation Protokoll eines mörderischen Sommertages: Die Jagd auf die Juden von Kielce 1946
Fernsehpädagogik ohne Zeigefinger
Baal Müller

Das Protokoll eines mörderischen Sommertages sucht der Dokumentarfilm von Ute Bönnen und Joanna M. Rother zu liefern mörderisch war jener 4. Juli 1946, an dem über vierzig jüdische Holocaust-Überlebende im polnischen Kielce einem Pogrom zum Opfer fielen, allemal; ein Protokoll, das nüchterne Fakten aneinanderreiht, kann man den Film jedoch kaum nennen. Stattdessen besticht er durch eine Intensität, die er vor allem durch die Erzählweise der Zeitgenossen erhält. Sie tun dies, obgleich noch immer betroffen, beschämt oder gezeichnet, durchweg unpathetisch, woraus sich eine Authentizität ergibt, die sich von der genretypischen Zeigefingerpädagogik wohltuend abhebt.

Freilich sind die Täter diesmal keine Deutschen, und die gewohnten Täter-Opfer-Schemata greifen nicht. Der antijüdische Ausbruch läßt sich über ein Jahr nach Kriegsende auch nicht mehr mit der NS-Vernichtungspolitik, der von Polen bloß zugearbeitet wurde, relativieren. Zwar scheint der Krieg noch immer in einer latenten Bestialisierung fortzuwirken, aber die eigentlichen Ursachen liegen tiefer, wenn das bloße Gerücht, Juden hätten an christlichen Kindern einen Ritualmord verübt, eine Menschenmenge dazu motivieren kann, wahllos Leute von den Balkonen eines Hauses zu stoßen und totzutreten.

Neben dieser Virulenz der alten Ritualmordlegende, gleichsam einer volkstümlichen Erweiterung des jüdischen Gottesmordes, erstaunt das Spektrum der Deutungen des Pogroms: Während der 1939 geborene Kazimierz Ryczan, Bischof von Kielce, die Ursachen in kommunistischen Umtrieben sowie auch in dem Verhalten der Juden selbst ausmacht, sieht der acht Jahre jüngere, in Warschau geborene US-Historiker Jan Tomasz Gross (Princeton University) die Wurzeln im katholischen Antijudaismus, der durch den polnischen Märtyrer-Nationalismus verdeckt werde.

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