© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Revolution und Abenteuer
Belgien: Nach den Parlamentswahlen zeichnet sich eine schwierige Regierungsbildung ab / Mehrheit für nationale Parteien in Flandern?
Mina Buts

Wollen wir das Land in all seinen Strukturen reformieren, oder wollen wir es kaputtmachen?“ Diese Frage stellt sich nicht nur Marianne Thyssen, Chefin der flämischen Christdemokraten (CD&V) vor den Parlamentswahlen am Wochenende. De Standaard, die größte Zeitung des Landes, prognostiziert einen „Erdrutsch“ in Belgien, die Flamen würden mehrheitlich „radikal rechts“ stimmen und damit dem flämischen Separatismus Vorschub leisten.

Die Wallonen, „getrieben von Verlust­ängsten, von Veränderungsphobien“, würden für ihre Blockadepolitik auf allen Politikfeldern abgestraft werden und das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich wollten, nämlich stabile Verhältnisse in Belgien. Nur durch einen neuen „belgischen Kompromiß“ könne es eine Lösung geben. Der sei aber weder von den flämischen noch von den wallonischen Parteien zu erwarten.

Grund für die Aufregung in Belgien ist die „geheime“ Wahlprognose für die national-konservative Neue Flämische Allianz (N-VA), die ihren Stimmenanteil voraussichtlich verdoppeln wird. Zum ersten Mal könnten die traditionell starken Christdemokraten überrundet werden und die N-VA als einzige Partei mehr als ein Viertel der Wählerstimmen auf sich vereinigen.

N-VA-Chef Bart De Wever gibt sich volkstümlich und macht aus seiner Vorliebe für Fastfood keinen Hehl: „Ich sehe aus wie ein Fisch“, gesteht der 39jährige selbstironisch ein. Im vergangenen Jahr kämpfte er beim VRT-Fernsehquiz um den Titel „Klügster Mann der Welt“ und schied erst in letzter Sekunde aus. Nun wird er bereits als kommender Ministerpräsident des Landes gehandelt. Daß die N-VA in weiten Teilen die Positionen des als rechtsextrem verschrieenen Vlaams Belang (VB) vertritt, scheint viele flämische Wähler nicht zu stören. Im Gegenteil, sie wollen die alten Regierungsparteien (neben CD&V die Sozialisten/SP.A und Liberale/VLD) abstrafen, denen sie den jahrelangen Stillstand im Land vorwerfen. Bei der Wahl 2007 waren CD&V und N-VA noch gemeinsam angetreten und mit 30 von 150 Sitzen stärkste Kraft in Flandern und auch belgienweit geworden. Die N-VA kommt aus der Mitte der Gesellschaft, sie gilt vielen als wählbare Alternative.

Sie hat den großen Vorteil, daß um sie kein abgrenzender „cordon sanitaire“ gewoben worden ist. Der VB hingegen wird durch den N-VA-Zuspruch auf seinen harten Kern reduziert, nur elf Prozent werden noch prognostiziert. Die Liste des Ex-VLD-Politikers Jean-Marie Dedecker (LDD), die dritte flämische Rechtspartei, gibt sich entspannt – sie wird zwar erneut die Fünf-Prozent-Hürde nehmen, mehr aber auch nicht.

Auf die Kernfrage der belgischen Politik, die Zukunft des Königreichs, angesprochen, antwortet der Spitzenkandidat der N-VA bislang nur ausweichend: „Die anderen Parteien werden sicher sagen, daß es ab dem 14. Juni mit uns Revolution und Abenteuer geben wird, von denen man das Ende nicht kennt, wir haben aber immer gesagt, daß Belgien verdampfen wird in einem stärkeren Europa“, so De Wever.

„Die N-VA will unser Land nur kaputtmachen“, schlußfolgert daraus der noch amtierende Vizepremier, Guy Vanhengel (VLD), und schließt damit jegliche Zusammenarbeit mit solchen „Extremisten“ aus, die die Teilung des Landes fordern. Selbst in Wallonien, wo der Wahlkampf erheblich unaufgeregter geführt wird, mehren sich Stimmen, einen Schutzwall auch um die „Spalterpartei“ N-VA zu legen. Schon vor den Parlamentswahlen zeichnet sich ab, daß es – wie schon in den vergangenen Jahren – eine rechts-nationale Mehrheit in Flandern, eine links-sozialistische in Wallonien geben wird. Selbst wenn es gelingen sollte, noch vor der Übernahme der Ratspräsidentschaft in der EU am 1. Juli eine neue Regierung präsentieren zu können, wird auch diese nicht von Dauer sein.

So tief ist der Graben, der sich mittlerweile durch das Land zieht, daß nicht einmal mehr Elio di Rupo, dem wallonischer Sozialistenführer, Gehör geschenkt wird. Dieser hat ganz überraschend eine Lösung für ein belgisches Kernproblem, die Teilung des heiß umstrittenen zweisprachigen Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde, bis September in Aussicht gestellt und damit die Aufgabe der wallonischen Blockadepolitik. Aber momentan wird das Angebot in Flandern nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen.

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