© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Pankraz,
Julian Assange und die Trillerpfeifen

Der Mann ist reif für die Folter. Sein Name ist Julian Assange (39), er ist australischer Staatsbürger und (Mit-)Begründer sowie bisher einzig identifizierbarer Gestalter der seit dreieinhalb Jahren anzuklickenden Internetplattform Wikileaks, wo bis dato sorgsam geheimgehaltene Dokumente aus aller Welt und speziell aus der Politik zugänglich gemacht werden und für Skandal und öffentliche Unruhe sorgen.

Julian Assange ist ein temperamentvoller, sehr jugendlich wirkender Blondschopf, der Alexander Solschenizyn, Arthur Koestler und Franz Kafka verehrt und sich von ihnen geprägt fühlt. Nach seinem Beruf gefragt, gibt er „Whistleblower“ (Enthüller, wörtlich: Trillerpfeifenbläser) an. Er will ausdrücklich nicht Journalist sein, weil Journalisten, welcher Couleur auch immer, seiner Erfahrung nach allesamt „Klientel-Netzwerker“ sind, allesamt  unter irgendwelchen Decken stecken und das Ideal der Wahrheitsfindung eher verraten, statt ihm zu huldigen. Er selbst begann seine Karriere übrigens als jugendlicher Computerhacker und war als solcher in Australien auch einmal angeklagt.

Weltweite Aufmerksamkeit erregten seine Wikileaks erstmals, als sie Ende 2007 die sogenannten „Guantánamo-Bay-Handbücher“ ins Netz rückten, nämlich die geheimen Richtlinien der US-Armee, welche die Verhör- und Folterpraktiken in jenem exterritorialen KZ regeln. Zwei Jahre später gab es Aufregung, nachdem Assange die grotesk verlogenen E-Mails des obersten Welt-Klimaschützers über die angeblich unmittelbar bevorstehende Abschmelzung sämtlicher Himalaja-Gletscher publiziert hatte und danach den für die deutsche Bundesregierung so peinlichen Kunduz-Feldjäger-Report.

Bisheriger Höhepunkt im Programm aber war ein geheimes Video, auf dem die Besatzung eines über Bagdad kreisenden US-Kampfhubschraubers eine Gruppe von Zivilisten zusammenschießt, die sich unten auf der Straße bewegt, darunter ein Reporter der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Alles ist zu sehen und zu hören: das Rattern der unfehlbaren automatischen Waffen, das Zusammenstürzen der Opfer, die ignoranten Kommentare der jungen Bordschützen. Die Sendung bewirkte internationale Verwicklungen. Reuters protestierte. Der verantwortliche General stotterte etwas von „Kampfeinsatz“.

Alle Nutzer von Wikileaks fragen sich natürlich: Wo haben die ihre hochbrisanten Sachen her? Ist wirklich alles nur Resultat einer intelligenten, tollkühnen und dennoch legalen Netzrecherche? Das kann man sich doch kaum vorstellen. Dieser Herr Assange muß doch selber ein skrupelloser Klientel-Netzwerker sein. Macht er sich nicht dauernd ausgedehnt strafbar? Wer deckt ihn? Wem dient er?

Indes, Julian Assange, behördlich gemeldet in Island, mit Zweitwohnsitz in Townsville (Australien), bot bisher nicht die geringste Angriffsfläche. Er ist eine Black Box, wie man sie in unserem Informationszeitalter nicht mehr für möglich gehalten hätte. Über seine Mitarbeiter und Gönner gibt er keine Auskunft. Dem Aufsichtsrat von Wikileaks gehören einige bekannte Menschenrechtsaktivisten von Amerika bis China an, die ebenfalls sehr zugeknöpft sind. Alle arbeiten unentgeltlich und ohne Büro. Die (sehr bescheidenen) laufenden Kosten werden durch private Spenden gedeckt; Spenden von Unternehmen oder Regierungen nimmt Wikileaks nicht an.

Es gibt ein Büchlein von Assange mit dem Titel „Konspiration als Regierung“, wo er schreibt, daß jede Institution gegenüber den Individuen, ob Mitgliedern oder Nichtmitgliedern, zur „Verschwörung“ neige, zur Geheimnisbildung und zur Herausbildung einer „Klientel“, eines kleinen Kreises von Eingeweihten und Code-Inhabern. Das wirke sich faktisch in jedem Fall unheilvoll aus, bis hin zu bösen totalitären Regimen. Je mehr Geheimdokumente und je kleiner der Kreis der Eingeweihten, um so schlechter die Regierung.

Nicht „Demokratie contra Diktatur“ oder „Links gegen Rechts“ bestimme das gesellschaftliche Leben, sondern „Verschwörung contra freies, wohlinformiertes Individuum“. So sei es das Gebot jedes anständigen Wissenschaftlers und Menschenfreunds, jegliche Verschwörung leck zu schlagen, indem man ihre ängstlich versteckten Dokumente allgemein zugänglich macht. Enthüllte Dokumente verdünnten zunehmend den Code-Austausch zwischen den jeweiligen Verschwörern, und wenn der auf Null schrumpfe, sei die Verschwörung aufgelöst.

Soweit also Julian Assanges dokumentiertes Primär-Bekenntnis, gewissermaßen die  Wikileaks begründende Ideologie. Man könnte manches gegen sie einwenden, vor allem wohl, daß es sehr viele verschiedene Geheimnisse gibt und beileibe nicht jedes ein hinterhältiges Machtinstrument ist. Trotzdem findet Pankraz den Whistleblower Assange in seiner gegenwärtigen Verfassung ungemein sympathisch. Er ist zur Zeit ein großartiges Unikat, an dem man sich ein Vorbild nehmen kann.

Soviel Medienverständnis! Soviel raffinierter Zugang zu aufregendsten und wertvollsten Zeitdokumenten! Und dennoch nirgendwo auch nur die Spur von Geldgier und schlauem Verwertungsinteresse. Und wie er es schafft, selber geheim zu bleiben und keine Dokumente der eigenen Unternehmungen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen! Fast täglich versuchen alle möglichen Institutionen ihn mit teuren Prozessen zu überziehen und dadurch mattzusetzen. Geheimdienste umkreisen ihn, Investoren, Mafiabosse. Doch er blieb bisher allem Anschein nach ganz gelassen. Man muß sich um ihn Sorgen machen.

Der Mann ist in vielen Perspektiven reif für die Kugel. Oder noch schlimmer: reif fürs Waterboarding, das heißt für alle möglichen Folterpraktiken, mit denen man auch stärksten Charakteren ihre Geheimnisse abpressen kann und von denen Wikileaks so eindrucksvolle Dokumente überliefert hat. Am schlimmsten freilich wäre, der Mann verriete eines Tages seine Überzeugungen und käme anschließend auf lukrative Geschäftsmodelle.

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