© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Traditionspflege
Karl Heinzen

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat soeben in Wuppertal eine neue Stiftung vorgestellt, die durch das Unternehmer-Ehepaar Roswitha und Erich Bethe auf den Weg gebracht worden ist. Möglicherweise handelt es sich um einen der letzten Akzente, die er in seiner Regierungszeit zu setzen verstand.

Die Gründer möchten ihr Projekt mit dem asketischen Namen „Die Stiftung“ versehen. Das große „S“ in „Stiftung“ soll dabei im Logo auffällig gestaltet werden, damit man erkennt, daß es auch stellvertretend für den Anfangsbuchstaben sowohl des hebräischen Wortes „sachar“ (Erinnerung) als auch des allgemein bekannten Ausdrucks „Shoa“ gelesen werden kann. Als eine Kernaufgabe der neuen Institution ist die finanzielle Unterstützung von Schüleraufenthalten in der Konzentrationslagergedenkstätte Auschwitz vorgesehen. Für eine derartige auf zwei bis drei Tage angelegte Reise sind heute pro Person knapp 400 Euro zu veranschlagen. Da diese von immer mehr Eltern nicht ohne weiteres aufzubringen sind und in den Kassen der öffentlichen Hand Ebbe herrscht, wird die Stiftung Schülern aus Nordrhein-Westfalen mit einem Zuschuß beistehen, der ihren eigenen Kostenbeitrag auf einen symbolischen in Höhe von 35 Euro reduziert.

So wohlmeinend diese Förderung auch ist, muß sie sich jedoch der Kritik stellen, durch diese einseitige Bevorzugung von Auschwitz könnten andere Orte des Schreckens in der Wahrnehmung von Jugendlichen in den Hintergrund treten. Tatsächlich werden sich die Verantwortlichen der zahlreichen anderen Konzentrationslagergedenkstätten etwas einfallen lassen müssen, um im Wettbewerb um Schülergruppen zu bestehen.

Als Motivation für das Stiftungsprojekt gibt das Ehepaar Bethe die Beobachtung an, daß das Thema in Vergessenheit gerate und immer mehr Jugendliche keinen Zugang zu unserer Geschichte hätten. Dies mag zwar überraschen angesichts der alltäglichen Erfahrung, daß Deutschland sich als Erinnerungskulturnation begreift und keine Gelegenheit ausgelassen wird, des NS-Unrechts zu gedenken. Und doch ist das Kernproblem hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit des Gedenkens berührt: Unter der Altersgruppe der Jugendlichen stößt man heute vor allem auf Migranten, die dazu neigen, sich damit herauszureden, daß sie ja nicht die Nachfahren der NS-Täter seien. Sie an die Orte des Unrechts zu führen, wird aber nicht ausreichen. Man muß ihnen auch klarmachen, daß sie sich mit ihrer Berufung auf das Abstammungsprinzip in die geistige Tradition der Nationalsozialisten stellen.

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