© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Engel gegen Rechts
Gottes Bannerträger: Den Organisatoren des Europäisches Michaelisfests ist ihr Jubilar nicht ganz geheuer
Karlheinz Weissmann

Seit mehreren Wochen feiert die evangelisch-lutherische St. Michaelis-Gemeinde zu Hildesheim den eintausendsten Jahrestag der Grundsteinlegung ihrer schönen Kirche, ein Juwel der Romanik mit der berühmten (wenngleich nicht mehr originalen) Flachdecke, den ausdrucksstarken Kapitellen und Wandmalereien, der Schlichtheit des Basilikabaus. Man hat Verbindungen zu anderen dem Erzengel geweihten Kirchen in ganz Europa aufgenommen und veranstaltete am vergangenen Wochenende ein Europäisches Michaelisfest in der Kirche und der Hildesheimer Innenstadt.

Das alles ist sehr erfreulich, wenngleich man etwas irritiert davor steht, daß bei den Vorträgen und workshops, der kleinen Fotoausstellung im Roe-mer- und Pelizaeus-Museum und den verschiedenen Aktionen eines zielsicher ausgespart blieb: die Bedeutung des heiligen Michaels im allgemeinen und im besonderen, für die abendländische wie die morgenländische Christenheit. Statt dessen wird der Interessierte mit dem Zitat aus Bachs Michaelismesse „Gottes Engel weichen nie“ abgespeist und jede Konkretisierung tunlichst vermieden. Es entsteht der Eindruck, als ob den Veranstaltern St. Michael eher peinlich ist – daß er jedenfalls Eigenschaften verkörpert, die heute weder politisch noch theologisch korrekt sind.

Der Erzengel bewaffnet den Kaiser gegen die Barbaren

Michael gehört neben Gabriel, Raphael und Uriel zu den Erzengeln, die nach jüdischer Überlieferung den Thron Gottes umstehen. Er verwahrt die Schlüssel des Himmelreichs und muß am Tag des Gerichts die Seelenwaage halten, mit der über das Schicksal der Menschen entschieden wird. Schon im alten Israel galt er als Anführer und Bannerträger der Engelheere und als Beschützer von Gottes Volk. Aber erst unter christlichem Einfluß wurde Michael endgültig zum überirdischen Krieger, dessen Name – „Wer ist wie Gott“ – Schlachtruf im Kampf gegen das Böse selbst ist.

Die Beschreibung des endzeitlichen Gefechts zwischen Michael und dem den Satan verkörpernden Drachen hat immer wieder die religiöse Phantasie entzündet, und die Gestalt des Erzengels trug einen ausgesprochen kämpferischen Zug in das friedfertige Christentum. Deshalb kann es nicht überraschen, daß Michael vor allem in dem um seine Existenz ringenden oströmischen Reich besonders verehrt wurde.

In den Abwehrschlachten gegen die islamischen Eroberer galt Michael als der Engel, der den Kaiser gegen die Barbaren bewaffnet, den Christen den Sieg verleiht und die Feinde verfolgt. Man verehrte ihn nicht nur als den Herrn der himmlischen Heerscharen, sondern gab ihm auch den Rang eines Archistrategos als Befehlshaber der irdischen Armee.

Der Kult des Drachentöters Michael hat dann seit dem Frühmittelalter auch im Westen Fuß gefaßt: das nicht nur wegen des byzantinischen Vorbilds, sondern auch weil die Gestalt des Engels dem Geist der germanischen Völker entgegenkam. 819 ließ Karl der Große den Papst durch die Mainzer Synode bitten, den Erzengel zum Patron des Karolingerreichs zu bestimmen. Dem Wunsch wurde entsprochen, und nach dem Zerfall Frankens blieb Michael anfangs im östlichen wie im westlichen Teil Schutzherr des Landes. Allerdings wurde der Erzengel allmählich durch den Heiligen Dionysius in den Hintergrund gedrängt.

In Deutschland dagegen schien er die Aufgabe des Nationalheiligen auf Dauer zu behalten; das und die bewußte Anknüpfung an die Karls-Tradition erklärt wohl auch den Gebrauch der Michaelsfahnen in der ottonischen Zeit. Nach der „Res gestae saxonicae“ des Widukind von Corvey führten Heinrich I. und Otto I. Heerfahnen mit dem Bild eines Engels. Obwohl wir keine genaue Beschreibung dieser frühen Feldzeichen besitzen, spricht alles für die Annahme, daß es sich um eine Darstellung des Heiligen Michael gehandelt hat.

Der Niedergang des Reiches ließ auch die Bedeutung Michaels schwinden. Seine Verehrung blieb allerdings in vielen Gegenden, vor allem dem Süden Deutschlands, verbreitet. Das Volk betrachtete ihn als Seelenleiter, die Bahre nannte man St. Michaels Roß, den Tod bis zum Jüngsten Tag St. Michaels Schlaf. Aber an die ursprüngliche Bedeutung als Schützer der Nation erinnerte man sich erst im Völkerfrühling zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder. Die Romantik entdeckte mit der deutschen Vergangenheit auch die Figur St. Michaels und reklamierte ihn – vor allem auf evangelischer Seite – als Symbol des Strebens nach nationaler Einheit und Freiheit: eine Vorstellung, die nach der Gründung des Zweiten Reiches besondere Bedeutung gewann.

Der Rückgriff auf den Erzengel bot sich aus mehreren Gründen an: Er konnte die seit dem Vormärz verbreitete negative Allegorie des deutschen Michel durch eine positive ersetzen und entsprach gleichzeitig den Vorstellungen von christlich-deutscher Erneuerung, wie sie vor allem Wilhelm II. vertrat. In seiner religiösen Vorstellungswelt spielte der Heilige Michael eine besondere Rolle. Bekannt ist die von ihm 1895 entworfene Zeichnung „Die gelbe Gefahr“, die den Erzengel mit dem Flammenschwert vor den Allegorien der europäischen Nationen zeigt und sie angesichts eines auf Wolken heranschwebenden Buddha auffordert, ihre heiligsten Güter zu wahren.

Weniger bekannt sind die Entwürfe des Kaisers für ein Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen des 1. Garderegiments zu Fuß in Saint Privat, die wenige Jahre später entstanden und den Heiligen Michael in ritterlicher Rüstung mit gesenktem Schwert als Wächter für alle hier gefallenen braven Soldaten beider Heere darstellten.

Eine außerordentliche Popularisierung erfuhr die Gestalt des Erzengels dann noch einmal während des Ersten Weltkriegs. In zahlreichen Bildern, wie sie von Fidus, Franz Stassen oder anderen Künstlern geschaffen wurden, trat er neben Siegfried und Germania als Verkörperung Deutschlands auf, die katholische Kirche ließ ein Kriegsgebet beginnen mit den Worten „Heiliger Erzengel Michael, beschirme uns im Kampfe“. Es ging dabei immer um den Schutzpatron und Nationalheiligen, aber auch um denjenigen, der die Gefallenen ins Jenseits begleitet, und den Drachentöter.

Der Erste Weltkrieg hat nicht nur die Kräfte der europäischen Nationen, sondern auch deren Bildervorrat erschöpft. Vollkommen verschwunden ist die alte Ikonographie jedoch nicht. Das Bild des Drachentöters ist ein Archetypus und deshalb bis heute von schwer unterschätzbarer Wirkung.

All das hat mit dem, was man heute in Hildesheim propagiert, freilich nichts zu tun. Gekämpft wird da nicht gegen Ungeheuer, nur noch gegen Phantome. Eine der Initiativen, die vorigen Sonnabend auf den Plan trat, lief übrigens unter dem Titel „Engel gegen Rechts“.  – Sanct Michael, salva nos!

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