© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Sparzwang macht Sozialabbau unumgänglich
Der gescheiterte Sozialstaat
von Bernd-Thomas Ramb

Die griechische Regierung soll sparen. Die deutsche Regierung will sparen. Doch in beiden Fällen glauben die wenigsten an eine Chance der Verwirklichung. Im Falle Griechenlands zeigten die gewalttätigen Demonstrationen der letzten Wochen die Grenzen einer Sparpolitik bereits klar auf: Gegen den Volkszorn läßt sich nicht regieren, und eine neue Partei ist schnell gewählt, die den Griechen frisches Brot und neue Spiele finanziert; zumal der Zufluß an Geld europäisch abgesichert ist. Aber auch in Deutschland droht einer Sparpolitik trotz der Spar-Klausurtagung der Regierung heftiger Widerstand – nicht nur von seiten der Opposition. Manches Kabinettsmitglied zeigt sich zwar einsichtig und bestätigt die Notwendigkeit von Budgetkürzungen – aber möglichst moderat oder nicht im eigenen Ressort. „Sinnvolles Sparen“ wird gefordert, aber welcher Minister hält sein eigenes Ministerium und die von ihm konzipierten Ausgaben schon für unsinnig!

So verwundert es nicht, daß die „Spar“-Anstrengungen schnell in Überlegungen abgleiten, wie unter diesem Fähnchen eher Steuererhöhungen erreicht werden könnten. Die „Einsparung“ von Steuervergünstigungen, etwa bei den reduzierten Mehrwertsteuersätzen, steuerlich absetzbaren Ausgaben für Handwerkerleistungen oder Investitionen zur Energieeinsparung, ist natürlich reiner Etikettenschwindel. Gespart im eigentlichen Sinne wird dabei nicht, sondern lediglich der Betrag der Staatseinnahmen ausgeweitet. In diese Richtung zielen nebenbei auch die Überlegungen der deutschen Regierung zur Einführung diverser Finanztransaktionssteuern. Die pseudomoralische Verbrämung als „Strafe für die Kapitalmarktspekulanten“ kann dabei nicht überzeugen, denn zahlen müssen letztlich alle Kunden des hochgradig vernetzten Bankensystems.

Die Erhöhung der Staatseinnahmen kann – bei Vermeidung einer gleichzeitigen Erhöhung der Staatsausgaben – das Haushaltsdefizit reduzieren. Ob dadurch ein Überschuß erreicht wird, die Einnahmen also die Ausgaben übertreffen, bleibt offen. Nur ein solcher Überschuß erfüllt jedoch den Tatbestand des Sparens. Tatsächlich zu sparen, gelang indes noch keiner Regierung seit Bestehen der Bundesrepublik. Im Gegenteil, in der Regel wurde ganz bewußt mehr ausgegeben als eingenommen. Begründet wurde dies mit dem vermeintlichen volkswirtschaftlichen Nutzen eines defizitären Staatshaushalts entsprechend der ökonomischen Theorie der „keynesianischen“ Wirtschaftspolitik.

Der englische Mathematiker und Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946) entwickelte sein wirtschaftspolitisches Konzept der ungedeckten Ausgaben (deficit spending) allein für Zeiten der wirtschaftlichen Depression. Die Gesamtidee enthielt stets die Maßgabe, in wirtschaftlich besseren Zeiten die angesammelte Staatsverschuldung wieder abzubauen. Der zweite Teil wurde jedoch bei der praktischen Anwendung dieser Wirtschaftstheorie bislang von den Politikern stets geflissentlich übersehen. Auch schwebte Keynes bei seiner Theorie die Zeit der großen Weltwirtschaftsdepression der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts vor – eine Situation, die wesentlich unerträglicher war als die vergleichsweise geringfügigen Konjunktureinbrüche der Nachkriegszeit.

Richtiges Sparen erfordert eine klare Absage an die keynesianische Wirtschaftspolitik. Da selbst ein Haushalt ohne absichtliche Schuldenaufnahme dazu neigt, im Ergebnis defizitär zu sein, ist die Einplanung von Haushaltsüberschüssen unverzichtbar.

Ernsthaftes Sparen erfordert als erstes eine eindeutige Absage an die keynesianische Wirtschaftspolitik, die ihre Versprechen nie eingehalten hat, allerdings auch nie in letzter Konsequenz vollzogen wurde. Das politisch durchzusetzen, ist schon schwer genug, aber nicht ausreichend. Auch ein nach Plan ausgeglichener Haushalt ohne absichtliche Schuldenaufnahme neigt dazu, im Ergebnis defizitär zu sein. Die Ursache liegt in der Neigung der Regierung, die Einnahmen zu überschätzen. Während die geplanten Ausgaben weitgehend feststehen und damit absehbar sind, unterliegen die Einnahmen unvorhersehbar schwankenden wirtschaftlichen Entwicklungen. Um diese abzufangen, müßten die Staatshaushalte grundsätzlich einen Überschuß ausweisen. Politikern, denen Haushaltsüberschüsse ein ideologischer Greuel sind, fällt dies naturgemäß schwer. Um tatsächlich zu sparen, ist darüber hinausgehend sogar der ausdrückliche Abschied von einem ausgeglichenen Haushalt zu nehmen.

Die zweite Voraussetzung für ernsthaftes Sparen ist daher die erklärte Einplanung sicherer Haushaltsüberschüsse. Dies mit zusätzlichen Steuererhöhungen erreichen zu wollen, überfordert die Einsicht der bereits jetzt extrem belasteten Steuerzahler. Sie konnten in der Vergangenheit mit immer neuen Steuerideen (Ökosteuer, Solidarbeitrag, Umweltabgaben usw.) gerade noch überzeugt werden, das Haushaltsdefizit nicht zu groß werden zu lassen. Außerdem sind der steuerlichen Belastung der Bürger verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Eine überzogene steuerliche Belastung zum Zweck der Überschußbildung würde der Steuerflucht und der Schattenwirtschaft enormen Auftrieb geben, so daß möglicherweise sogar das Gegenteil eintritt: sinkende Steuergesamteinnahmen.

Die dritte Voraussetzung für ernsthaftes Sparen lautet daher: Es muß gelingen, die Staatsausgaben zu verringern. Auf das bislang herrschende „Sankt-Florians-Prinzip“ wurde anfangs bereits hingewiesen: Jedes Ministerium verhält sich nach dem Motto „Verschon mein Haus, laß andere sparen“.

Dieses Sparhindernis ist nicht neu. Bereits im Oktober 2003 hatten deshalb die beiden damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU, Hessen) und Peer Steinbrück (SPD, NRW) gewissermaßen parteiübergreifend versucht, ein gleichmäßig gering belastendes „Rasenmähermodell“ zu entwickeln. Das Modell bezog sich noch nicht einmal auf eine Verringerung der Ausgaben, sondern auf die Erhöhung der Einnahmen durch eine schrittweise moderate Kürzung aller staatlichen Subventionen. Das schonende Konzept wurde in beiden Parteien als „politisch nicht durchsetzbar“ erklärt. Steinbrück hat sich inzwischen aus der aktiven Politik zurückgezogen, Koch wird ihm demnächst folgen – sicherlich auch in der Erkenntnis der mangelnden Realisierbarkeit kluger Politik.

Andererseits ist die Furcht, solche rasenmäherhaften Kürzungskonzepte praktisch umzusetzen, durchaus verständlich. Eine fünfprozentige Kürzung der Entwicklungshilfe wird weniger schmerzhaft empfunden als eine gleich hohe Verringerung der Ausgaben im Verkehrsbereich. Drei Prozent geringere Ausgaben im Verteidigungsetat erscheinen sozialer als dieselbe Kürzung bei den Sozialausgaben. Vor allem aber ist seit den extrem hohen Hilfszusagen zur Euro-Rettung ein Mengenproblem entstanden. Wenn etwa Einsparungen bei den Zahlungen für ältere Arbeitslose in Höhe von 1,5 Milliarden Euro gefordert werden, steht das in krassem Widerspruch zu der ersten Rate der Griechenlandhilfe in Höhe von 8 Milliarden Euro. So etwas ist in der Tat „politisch nicht durchsetzbar“.

Die plakative Forderung des FDP-Vorsitzenden Westerwelle, „intelligent“ zu sparen, hilft allerdings auch kaum weiter. Jeder Politiker verhält sich im Rahmen seiner Zielsetzung rational. Dagegen ist es notwendig, Sparkonzepte auf eine Überzeugungsbasis zu stellen; die Menschen müssen die dahinterstehende Philosophie erkennen können und davon überzeugt werden. Da bisher nicht gespart, sondern einer unzweckmäßigen Ausgabenphilosophie gefolgt wurde, ist als vierte Voraussetzung für ein ernsthaftes Sparen ein entsprechender Paradigmenwechsel erforderlich – sozusagen eine positive Ergänzung der ersten Voraussetzung für das Sparen: die Absage an den Keynesianismus. Allerdings geht es nun nicht mehr bloß um die Absage an Mehrausgaben, sondern um die inhaltliche Präzisierung der Minderausgaben.

Ein Blick auf die Ausgabenstruktur des Bundes für das Jahr 2010 offenbart eine ungleichgewichtige Dreiteilung: Von 326 Milliarden Euro Gesamtausgaben entfallen 38 Milliarden auf Zinszahlungen für die angesammelten Staatsschulden und 111 Milliarden auf die klassischen staatlichen Ausgabenbereiche wie Verteidigung, Verkehr, Bildung und anderes. Der Hauptteil, 177 Milliarden Euro, fließt in den Bereich Sozialausgaben. Insgesamt übersteigen die staatlichen Sozialausgaben von Bund, Ländern, Gemeinden und gesetzlichen Sozialversicherungen im Jahr 2010 den Betrag von 780 Milliarden Euro – fast doppelt soviel wie vor 20 Jahren. Die Explosion der staatlichen Sozialausgaben beruht auf der Errichtung des inzwischen kaum noch zu kontrollierenden Konzepts „Sozialstaat“. Die Überprüfung dieses Ausgabenkonzepts ist nunmehr unumgänglich.

Die philosophische Grundlage des Sozialstaats erhebt einen ethischen Anspruch: Es soll soziale Gerechtigkeit herrschen, keiner soll aufgrund seiner Armut sozial ausgegrenzt sein, die Reichen sind moralisch verpflichtet, die Armen finanziell zu unterstützen. Das ist prinzipiell sowohl auf staatlichem als auch auf privatem Wege möglich. Der private Weg beruht auf der freiwilligen Spende des Reichen oder weniger Armen an den von ihm ausgewählten weniger Reichen oder noch Ärmeren. Die staatlich organisierte Umsetzung basiert auf scheindemokratischen Mechanismen und sozialistischer Ideologie: Mehrheitlich wird bestimmt, wer arm und reich ist und wie hoch die Transferzahlung sein muß.

Die Folgewirkung läßt sich schematisch erklären: Der auf soziale Gerechtigkeit bedachte Staatsfunktionär (F) schlägt vor, dem Reichen (R) den Betrag (X) gegen dessen Willen wegzunehmen, um nach Abzug seiner eigenen Vergütung (V) den Restbetrag (X-V) an den Armen (A) auszuzahlen. F und A sind für dieses Verfahren, R ist dagegen. F und A verfügen aber über die Abstimmungsmehrheit und können diesen Plan „demokratisch“ durchsetzen. F und A sind danach reicher und R ist ärmer. Das System neigt also zu einer Nivellierung der Einkommen und Vermögen; und das um so schneller, je häufiger und intensiver das sozialistische Umverteilungsverfahren angewendet wird. Es stößt an eine erste Grenze, wenn es keine Reichen mehr gibt. Dann aber setzt das System der Staatsverschuldung aus Gründen der „sozialen Gerechtigkeit“ ein. Die ungeborenen Reichen der nächsten Generationen werden in Umverteilungshaft genommen.

Der Abbau der Sozialausgaben erfordert, das Potential zur privaten Umverteilung wieder aufzubauen, also Steuern zu senken. Außerdem gilt es, die elementare Erkenntnis durchzusetzen, daß nicht der Staat sozial sein kann, sondern allein die Gesellschaft.

Neben der Frage, ob dieses Verfahren wirklich dem demokratischen Ideal entspricht und nicht bloß eine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit darstellt, besteht ein fundamentales Rechtsproblem: Um ein virtuelles Recht zu befriedigen, wird ein tatsächliches Unrecht begangen. Wird dem Armen wirklich geholfen, wenn dem Reichen gegen seinen Willen sein Geld weggenommen wird? Der verkrustete Sozialstaat wischt diese Bedenken mit dem Einwand zur Seite, wenn der Staat nicht den Armen hülfe, gäbe es keine hinreichende Hilfe durch die freiwillige private Unterstützung. Das trifft durchaus genau dann zu, wenn den Reichen nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung stehen und wenn ihnen die moralische Grundlage abhanden gekommen ist.

Der Abbau von staatlichen Sozialausgaben erfordert daher zwei zusätzliche Maßnahmen. Erstens ist das Potential zur privaten Umverteilung wieder aufzubauen. Das bedeutet schlicht, die Steuern sind zu senken. Damit sinken auch die Staatseinnahmen, wobei darauf zu achten ist, daß sie in einem geringeren Umfang zurückgehen, als die Sozialausgaben verringert werden; sonst entsteht kein Spareffekt. Für die Empfänger staatlicher Sozialausgaben bedeutet dies auf jeden Fall einen Einkommensverlust.

Zweitens ist die moralische Restitution der Gesellschaft erforderlich. Sie muß auf der elementaren Erkenntnis beruhen: Der Staat kann nicht sozial sein, sondern allein die Gesellschaft. Die Wiedererrichtung der gesellschaftlichen Moral ist damit der letzte und wichtigste Grundstein ernster Sparanstrengungen. Die allgemeine Bewußtwerdung des gescheiterten Sozialstaats verlangt eine Neubesinnung aller Beteiligten: von den armen Sozialhilfeempfängern die Einsicht, daß diese Hilfe kein Naturrechtsanspruch, sondern ein Gnadenakt der Geber ist, von den reichen Sozialhilfegebern die Eingebung, daß sie ihre moralische Verpflichtung nicht mehr beim Finanzamt billigst abladen können, sondern ihr soziales Gewissen aktives Handeln fordert.

Übrig bleibt die Forderung nach einer moralischen Restitution der Politiker. Sie bedingt deren öffentliches Eingeständnis: Das Umverteilungskonzept des Sozialstaats ist gescheitert. Sie erfordert die öffentliche Demaskierung aller politischen Verführer, die mit dem Rauschgift der „sozialen Gerechtigkeit“ um „demokratische“ Mehrheiten werben. Ob dies der amtierenden Politikerklasse gelingt, nachdem sie selbst in dieser sozialistischen Ideologie schuldhaft verstrickt war, bleibt offen. Ohne sozialpolitische Reue und Umkehr wird jedoch kein ernsthaftes Sparkonzept vermittel- und durchsetzbar sein.

 

Prof. Dr. Bernd-Thomas Ramb lehrte Wirtschaftswissenschaften unter anderem an der Universität/Gesamthochschule Siegen und arbeitet als selbständiger wirtschaftswissenschaftlicher Berater. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt ebenfalls zum Thema Staatsverschuldung („Zerreißt es die Bundesrepublik?“, JF 6/08)

Foto: Deutschland hat Schulden bis an die Oberkante: Um zu sparen müssen vor allem die Sozialausgaben massiv reduziert werden.

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