© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

„Uns droht die Zentralisierung“
2009 hat er in Karlsruhe „Lissabon“ korrigiert, für Peter Gauweiler klagt er nun gegen den Euro-Putsch
Moritz Schwarz

Herr Professor Murswiek, während die Koalition in Berlin sich derzeit an Spardebatte und Bundespräsidentenfrage aufreibt, schwelt im Hintergrund die Euro-Krise weiter. Peter Gauweiler hat in Karlsruhe eine von Ihnen formulierte Klage gegen den milliardenschweren „Euro-Stabilisierungsmechanismus“ – auch „EU-Rettungsschirm“ genannt – eingereicht. Geht es dabei nur ums Geld?

Murswiek: Es geht um sehr viel Geld, um rund 148 Milliarden Euro, für die der deutsche Steuerzahler zur Rettung von Euro-Pleitekandidaten einzustehen hat – mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts. Es geht aber um noch viel mehr. Das Besondere am sogenannten EU-Rettungsschirm ist, daß es sich nicht mehr wie beim „Griechenland-Rettungspaket“ um eine der Not gehorchende Einzelfall-Maßnahme handelt, sondern um einen grundsätzlichen Kurswechsel. Im Fall Griechenland hatte es noch geheißen, dies sei eine „einmalige Ausnahmesituation“. Doch nur drei Tage später war bereits die nächste angebliche „Ausnahmesituation“ eingetreten. Und auch die Konstruktion des „Rettungsschirms“ zeigt, daß es nicht um „einmalige Ausnahmesituationen“ geht, denn die Notfälle sind ja noch gar nicht eingetreten: Portugal, Irland, Spanien stehen noch nicht vor der Insolvenz. Es geht also um ein präventives, auf Dauer angelegtes Instrumentarium, das die rechtliche Konzeption des Vertrags, die die Währungsunion als Stabilitätsunion konstruiert, fundamental umgestaltet.

Worauf zielt diese Umgestaltung ab?

Murswiek: Aus der Währungsunion würde eine Haftungs- und Transferunion, aus dem Euro würde tendenziell eine Weichwährung.

Was folgt daraus für die Souveränität der Mitgliedstaaten?

Murswiek: Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil ausdrücklich betont: Zur Wahrung der Souveränität gehöre, daß der Bundestag die haushaltspolitische Gesamtverantwortung für Einnahmen und Ausgaben des Staates behalte. Dies wird jetzt in Frage gestellt. So etwas wie einen „Länderfinanzausgleich“ gibt es nur innerhalb eines Bundesstaats, nicht in einem Staatenverbund. Als im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 über die Gründung der Währungsunion diskutiert wurde, haben viele eingewandt, daß eine Währungsunion ohne eine politische Union sinnlos sei. Eine politische Union, also insbesondere die Verlagerung der Zuständigkeit für die Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik auf die EU, war damals aber nicht durchsetzbar. Manche Politiker, die die Währungsunion befürworteten, erhofften sich davon, daß mit der Währungsunion irreversible Fakten geschaffen würden, die dann zwangsläufig in die Schaffung der politischen Union einmünden müßten. Die Kritiker hielten dem entgegen, wegen ebendieser Sachzwänge sei mit dem Vertrag von Maastricht die Grenze zur Aufgabe der souveränen Staatlichkeit überschritten.

So argumentierten zum Beispiel Sie in einem Gutachten für die Grünen, die damals gegen den Vertrag von Maastricht geklagt haben.

Murswiek: Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Argumentation allerdings nicht gefolgt.

Nun kommt es aber genau so.

Murswiek: Das Gericht argumentierte damals, es gebe keine solche Zwangsläufigkeit; die Politik habe dann immer noch die Möglichkeit, anders zu entscheiden. Konsequenterweise muß das Gericht jetzt das Recht den angeblichen politischen Zwangsläufigkeiten entgegenhalten.

Doch tatsächlich nutzt die Politik nun die Lage, um die Dinge voranzutreiben: Diejenigen, die uns die Krise eingebrockt haben, räumen nicht ein, daß sie sich geirrt haben, sondern fordern jetzt noch mehr EU!

Murswiek: Ich glaube nicht, daß die auf deutscher Seite am „Rettungsschirm“-Beschluß beteiligten Politiker diese Intention haben; ihnen geht es im Moment nur darum, sich vorerst aus der Euro-Krise zu retten. Aber was sie damit bewirken, ist eine radikale Zentralisierung.

Mit dem Lissabon-Vertrag hat man versucht, das Fundament für einen EU-Bundesstaat zu legen. Dank Ihrer Klage 2009 ist das gescheitert, damit war der institutionelle Weg zum Bundesstaat vorerst verbaut. Nun versucht man den Bundesstaat klammheimlich durch die Hintertür – über die Transferunion – doch noch durchzusetzen, mit einem Notstand argumentierend, den man selbst herbeigeführt hat. Ist das noch Demokratie?

Murswiek: Eine Notstandssituation rechtfertigt unter Umständen Notstandsmaßnahmen, also Maßnahmen, die eine konkrete Krise beheben, aber nicht, auf Dauer das politische System zu ändern. Ist es schon ein Problem für die Demokratie, wenn das Parlament gezwungen wird, Hunderte Milliarden an Haushaltsgeldern zur Rettung von Banken bereitzustellen, weil es angeblich keine Alternative gibt, dann ist es erst recht ein Problem für die Demokratie, wenn unter Berufung auf einen Notstand die rechtliche Konzeption zum Schutz der Geldwertstabilität faktisch in ihr Gegenteil verkehrt wird.

Sprich, der Rettungsschirm ist rechtswidrig?

Murswiek: Eindeutig: Eine der tragenden Säulen in der Konzeption, mit welcher der AEUV – der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der heute die im Maastricht-Vertrag festgelegten Regeln bezüglich der Währungsunion enthält – die Geldwertstabilität sichert, ist das sogenannte „Bailout-Verbot“. Das bedeutet, daß Mitgliedsstaaten, die überschuldet sind, nicht finanziell beigesprungen und keine Haftung für deren Verbindlichkeiten übernommen werden darf. Sinn dieser Regelung ist, daß jeder Euro-Staat für seine Finanzen selbst verantwortlich ist, also eine solide Haushaltspolitik zu betreiben hat. Jetzt macht man nicht nur in einem Einzelfall, sondern konzeptionell das Gegenteil. Das bedeutet nichts anderes als eine faktische Vertragsänderung – ohne Vertragsänderungsverfahren und ohne demokratische Legitimation. In Deutschland sagt man das nicht laut, aber zum Beispiel der französische EU-Minister Pierre Lellouche hat in einem Interview mit der Financial Times mit verblüffender Offenheit eingeräumt, daß der Rettungsschirm vertragswidrig sei, und stolz verkündet, man habe eine fundamentale Revision des Vertrags vorgenommen, nämlich de facto auf finanzieller Ebene das eingeführt, was Artikel 5 des Nato-Vertrags auf militärischer Ebene regele: eine Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand.

Dann dürfte der Ausgang der Klage doch klar sein.

Murswiek: So einfach ist das nicht. Auch wenn die angegriffene Maßnahme objektiv klar verfassungswidrig ist, hat die Verfassungsbeschwerde nicht notwendig Erfolg. Ein Bürger kann nicht jeden Verfassungsverstoß, sondern nur die Verletzung seiner eigenen individuellen Grundrechte rügen. Nur wenn die Verletzung des „Bailout“-Verbots nicht nur objektiv gegen das Grundgesetz verstößt, sondern auch gegen ein subjektives Grundrecht des Beschwerdeführers, bekommt er recht. Meine Klageschrift stellt einen solchen Zusammenhang her; die Bundesregierung bestreitet ihn. Ich bin zuversichtlich, daß das Gericht meiner Argumentation folgen wird.

Die Regierung streitet also gar nicht ab, Verträge und Grundgesetz zu verletzen, sondern behauptet nur, daß Sie und Peter Gauweiler kein Recht haben, deshalb zu klagen?

Murswiek: Die Regierung argumentiert auch, daß die „Rettungspakete“ durch Notstand gerechtfertigt seien. Aber das trifft nicht zu, und wenn es zuträfe, könnte es nicht die Änderung der Vertragskonzeption rechtfertigen.

Wie geht nach Ihrer Ansicht das Verfahren also aus?

Murswiek: Erfolgreich.

Wann wird das Urteil gesprochen?

Murswiek: Vielleicht in ein paar Wochen, vielleicht in ein paar Monaten, ich denke aber auf jeden Fall noch dieses Jahr.

Ihr Antrag auf einstweilige Anordnung wurde allerdings soeben abgelehnt.

Murswiek: Aber ausdrücklich nicht, weil die Beschwerde „unzulässig“ oder „unbegründet“ wäre, wie die Bundesregierung argumentiert, sondern mit Rücksicht auf von der Bundesregierung befürchtete nicht absehbare negative Marktreaktionen, deren Eintreten „nicht eindeutig widerlegt“ sei. Die Ablehnung sagt also nichts über den Ausgang des Hauptverfahrens aus.

Wenn Sie gewinnen, würde das die ganze EU erneut in die tiefe Krise stürzen. Können Sie sich wirklich vorstellen, daß die Richter die Unabhängigkeit haben, sich diesem Druck im Fall des Falles tatsächlich nicht zu beugen?

Murswiek: Ich habe keine Zweifel an der Unabhängigkeit der Richter des Bundesverfassungsgerichts. Das sind Persönlichkeiten, die jeden Versuch politischer Einflußnahme kühl an sich abperlen lassen und sich keinesfalls an parteipolitischen Erwartungen orientieren. Eine andere Sache ist, daß ein Verfassungsgericht immer auch die möglichen politischen Folgen seiner Entscheidungen im Auge hat. Daraus kann sich in einem Fall wie diesem schon ein enormer politischer Druck ergeben. Im übrigen muß man konstatieren, daß das Gericht in der Vergangenheit bei allen Fragen, die außenpolitische Aspekte berührt haben, dazu geneigt hat, der Politik einen großen Spielraum einzuräumen.

Wird das Urteil nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so aussehen: Das Rettungspaket ist in Ordnung, vorausgesetzt, es werden folgende Auflagen eingehalten ... Diese werden dann natürlich langfristig nicht eingehalten, woraufhin Peter Gauweiler und Sie erneut Klage einreichen, was erneut nicht zu einem Stopp, sondern zu weiteren Auflagen führt, die aber ebenfalls nicht eingehalten werden, worauf hin Peter Gauweiler und Sie erneut Klage einreichen ... Dieses Spielchen wird mit wechselnder Besetzung doch schon seit der Maastricht-Klage 1992 gespielt.

Murswiek: Das sehe ich anders. Im Falle des Lissabon-Urteils mußten einige Auflagen sofort erfüllt werden, damit der Vertrag überhaupt in Kraft treten konnte. Und ob das Bundesverfassungsgericht die „Ultra-Vires-Kontrolle“, die es im Lissabon-Urteil für sich in Anspruch nimmt, auch tatsächlich ausübt und somit EU-Rechtsakte im Fall einer Kompetenzüberschreitung für in Deutschland unanwendbar erklärt, hat es selbst in der Hand. 

Was, wenn Sie verlieren?

Murswiek: Was für eine Frage! Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil gesagt, die Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft sei Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Jetzt wird diese vertragliche Konzeption verlassen. Da wird das Bundesverfassungsgericht die Bremse ziehen.

Mittlerweile wird vermutet, Bundespräsident Köhler sei nicht wegen seiner Äußerungen zur Bundeswehr zurückgetreten, sondern aus stillem Protest gegen die Art und Weise, wie der EU-Rettungsschirm von der Bundesregierung durchgepeitscht worden ist.

Murswiek: Vorstellbar ist das. Ich kenne Köhlers Motive nicht, ich kann nur sagen, daß die Gründe, die er genannt hat, mir in keiner Weise einleuchten. Sein Vorwurf, man habe den Respekt vor seinem Amt nicht gewahrt, ist möglicherweise berechtigt – aber nicht wegen der Reaktionen auf sein inkriminiertes Interview, sondern aus anderen Gründen, die er nicht genannt hat.

Wenn es sich so verhalten haben sollte, wäre Köhler dann nicht verpflichtet gewesen, sich vor das Grundgesetz zu stellen und den Konflikt auszutragen?

Murswiek: Ohne weitere Hintergründe zu kennen, kann ich nichts dazu sagen, nur soviel: Ich kann sein Verhalten nicht nachvollziehen. Man hätte vom Bundespräsidenten erwarten können, daß er das „Rettungsschirm“-Gesetz zumindest gründlich prüft. Das hat er aber offenbar nicht getan, denn dazu war die Zeit nicht da. Er hat es nach Rückkehr aus Afghanistan, schon am Tag nach dem Beschluß des Bundestages, unterschrieben. Es wäre aber seine Aufgabe gewesen, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Der ganze Vorgang wirft also erhebliche Fragen auf. Solange diese nicht beantwortet werden, ist es kein Wunder, daß die Spekulationen ins Kraut schießen.       

 

Prof. Dr. Dietrich Murswiek: ist Verfasser und Prozeßbevollmächtigter der Verfassungsklage Peter Gauweilers gegen den sogenannten EU-Rettungsschirm. Der renommierte Fachmann für Völker-, Verfassungs- und Umweltrecht (www.dietrich-murswiek.de) berät immer wieder Abgeordnete der CDU/CSU in staats- und völkerrechtlichen Fragen, hat aber auch schon für Grüne und ÖDP Gutachten erstellt und diese vor Gericht vertreten. Als Bevollmächtigter Gauweilers im Lissabon-Prozeß hatte er 2009 maßgebliche Änderungen für das Begleitgesetz des Vertrags erwirkt (JF 29/09). Mit den Grenzen der Verfassungsänderung und der Übertragung von Hoheitsrechten, die aus der Unterscheidung von Verfassungsgebung und -änderung resultieren, hat sich Murswiek in etlichen Publikationen beschäftigt. Daß das Prinzip der – europaoffenen – souveränen Staatlichkeit ein unabänderliches Verfassungsprinzip ist, wie inzwischen vom Bundesverfassungsgericht anerkannt, hatte er schon vor Jahren nachgewiesen, zuletzt in einer umfangreichen Kommentierung der Grundgesetz-Präambel im „Bonner Kommentar zum Grundgesetz“ (C.F. Müller, 2005). Geboren wurde Murswiek 1948 in Hamburg.

 

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