© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Muttersöhnchen
Karl Heinzen

Einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes zufolge leben 63 Prozent der 18- bis 26-jährigen Männer unserer Wohnbevölkerung mit ihren Eltern unter einem Dach. Nur jeder Fünfte aus dieser Altersgruppe führt einen Single-Haushalt, und das Wagnis, mit einer Lebenspartnerin oder einem Lebenspartner zusammenzuziehen, sind lediglich zwölf Prozent eingegangen. Der oft beklagte Trend zur Vereinzelung scheint sich somit im Alltagsleben noch nicht so recht auswirken zu wollen. Auch die These, die Generationen seien einander zunehmend entfremdet, wird durch diese Zahlen alles andere als gestützt.

Als Kernursachen des Nesthockertums sehen Sozialwissenschaftler überlange Ausbildungszeiten und eine in der Regel durch Praktika kaschierte Verzögerung im Berufseinstieg an. Da junge Frauen hier mit den gleichen Problemen konfrontiert sind wie ihre männlichen Altersgenossen, müßten sie, wenn diese Erklärung hinlänglich wäre, ebenfalls überwiegend noch bei den Eltern wohnen. Tatsächlich ist das aber nur bei 47 Prozent von ihnen der Fall. Allerdings sind immer noch sehr viele junge Frauen als in einer Beziehung lebende oder alleinerziehende Mütter von einer Teilnahme am Erwerbsleben ausgeschlossen, so daß ihnen ihre größere Unabhängigkeit vom Elternhaus keinen Vorteil gegenüber den gleichaltrigen Männern verschafft.

Nesthockertum wird zudem dadurch begünstigt, daß die Familien kleiner geworden sind. Eltern können heute eine längere Stehzeit ihres Nachwuchses daheim besser verkraften, weil es sich im günstigsten Fall um nur eine Person handelt. Da dieser Nachwuchs immer seltener eigene Kinder hervorbringt, kann die Aufmerksamkeit, die in der Vergangenheit die übernächste Generation für sich beanspruchen durften, ungeteilt der nächsten gewidmet werden, auch wenn diese längst dem Jugendalter entwachsen ist. Jungen Männern kommt dies in besonderem Maße entgegen, da sie immer seltener Frauen an sich binden können, die bereit sind, die Verantwortung für ihren alltäglichen Lebenskomfort nahtlos von der Mutter zu übernehmen.

Da Nesthocker ein Massenphänomen sind, scheint das Leitbild des mobilen, unabhängigen und selbstverantwortlichen Erwerbstätigen unter jungen Menschen nur auf schwache Akzeptanz zu stoßen. Die Hoffnung, sie könnten trotz ihrer geringen Zahl die Lücken schließen, die die abtretenden Generationen hinterlassen, steht auf tönernen Füßen. Es dürfte vielmehr unerläßlich sein, die Lebensarbeitszeit der Alten bis an die Grenzen des biologisch Möglichen zu verlängern.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen