© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

„Zum Teufel die Kameele!“
Literarischer Wortführer der 1848er-Revolution: Zum 200. Geburtstag des Lyrikers Ferdinand Freiligrath
Jakob Apfelböck

Auf Gottfried Benn wird das Bonmot zurückgeführt, daß ein Lyriker als erfolgreich gelten könne, wenn er in seinem Lebenswerk eine Handvoll Gedichte von Bestand vorzuweisen habe. Diesen Maßstab zugrunde gelegt, kann von einem gewissen Überdauern des Schaffens von Ferdinand Freiligrath, der vor 200 Jahren, am 17. Juni 1810, in Detmold geboren wurde, gesprochen werden. Sein „Trotz alledem!“, in der ersten Version die Übersetzung eines Gedichts von Robert Burns, in der zweiten ein radikaldemokratisches Resümee der März-Ereignisse von 1848, hat durch Hannes Wader, der die Originale kompilierte und vielfach fortspann, sogar Eingang in die populäre Kultur von heute gefunden.

Die Relevanz von Freiligrath ist aber nicht allein und nicht in erster Linie eine literarische. In seinem Werk spiegeln sich der Zeitgeist und die politischen Umbrüche zwischen der Julirevolution des Jahres 1830 und der Reichsgründung von 1871 wider. Das Gros seiner Gedichte kann als ein intellektuelles und mitunter sogar privates Tagebuch verstanden werden, in dem sich seine Metamorphosen nachvollziehen lassen: vom Spätromantiker zum Liberalen, der unvermittelt ein Parteigänger des frühen Kommunismus wird und schließlich als skeptischer und borussophober Befürworter des neuen Reiches endet.

Diese Wandlungen erscheinen gleichwohl als bruchlos, da sie das Gravitätszentrum seines Denkens unberührt ließen: Freiligrath blieb ein unerschüttert dem Vormärz verhafteter Nationalgesinnter, der an der Wegscheide von 1848/49 anders als die von der Furcht vor der „Pöbelherrschaft“ erfüllte Mehrheit der bürgerlichen Revolutionäre nicht zum Kompromiß mit den Herrschenden drängte, sondern im Vertrauen auf die moralische Integrität der Volksmassen für deren Entfesselung agitierte. In seiner Entschiedenheit ging er über den um das politisch Mögliche wissenden Weggefährten Karl Marx hinaus, und er hat sein mangelndes Gespür für die tatsächliche Lage mit dem gleichen Preis, einem langjährigen Exil, bezahlt.

Ein größeres Maß an Realismus war ihm aber bereits durch Herkunft und Status erschwert. Die liberale Bewegung, die gegen die nach den Napoleonischen Kriegen das Zepter führende Restauration opponierte, speiste sich aus aufstrebenden Eliten, die entweder qua ihres Bildungshintergrunds oder aufgrund ihres wirtschaftlichen Erfolgs den Anspruch erhoben, die Geschicke des Staates mit zu leiten. Zu beiden Gruppen ist Freiligrath nicht zu zählen. Zwar war sein Vater als Lehrer tätig, doch fehlten die finanziellen Mittel, um den Besuch des Gymnasiums mit einem Abschluß zu krönen und ein Studium aufzunehmen. Mit 15 Jahren trat er statt dessen in einer Firma der Brüder seiner Stiefmutter – seine leibliche Mutter hatte er schon 1817 verloren – in Soest eine kaufmännische Lehre an.

Mit diesem Lebensabschnitt setzt zugleich seine literarische Tätigkeit ein, erste Veröffentlichungen erfolgen in lokalen Blättern. Mit dem Wechsel in ein Großhandelshaus in Amsterdam werden schöpferische Kräfte freigesetzt. In der Hafenstadt und Wirtschaftsmetropole herrscht ein Kommen und Gehen von Kaufleuten und Schiffsbesatzungen aus aller Herren Länder, für Freiligrath eine Inspirationsquelle zur Auseinandersetzung mit exotischen Sujets, die er allenfalls aus Reisebeschreibungen kennt. Wüstenromantik und eine schwärmerische Verehrung der „unschuldigen“ afrikanischen und indianischen „Wilden“ prägen seine Lyrik dieser Lebensphase, mit der er sich in eine vom 18. bis ins 20. Jahrhundert reichende Tradition der Zivilisationskritik auf Umwegen einreiht. Auch das Massenphänomen der Emigration bietet Stoff für seine poetische Produktivität, er sinniert über die Motive, die die Auswanderer leiten, und das Schicksal, das sie in der Fremde erwartet. Das Forum dafür bietet ihm ab 1835 der von Adalbert von Chamisso und Gustav Schwab herausgegebene „Deutsche Musenalmanach“, der ihn zu einer literarischen Berühmtheit werden läßt. Zugleich macht er sich einen Namen als Übersetzer aus dem Französischen und dem Englischen.

Das wachsende Renommee weckt in ihm die Hoffnung, nicht nur „zum Zeitvertreib“ dichten zu können. Drei Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland kündigt er 1839 seine Stelle, siedelt sich in Unkel am Rhein an und versucht, ein Auskommen als freier Schriftsteller zu finden. Sein Widerwille, Auftragsproduktionen im Sinne der Geldgeber zu Ende zu bringen, steht dieser Absicht jedoch entgegen.

Die neue Umgebung wirkt sich sogleich auf sein Schaffen aus. Schlagartig wendet er sich von der Exotik ab und der Heimat zu, wiederum tagebuchgleich in seinem Gedicht „Die Rheinsage“ festgehalten: „Zum Teufel die Kameele/ Zum Teufel auch die Leu’n!/ Es rauscht durch meine Seele/ Der alte deutsche Rhein!/ Er rauscht mir um die Stirne/ Mit Wein und Eichenlaub;/ Er wäscht mir aus dem Hirne/ Verjährten Wüstenstaub.“

Freiligrath vollzieht damit aber mehr als nur einen Austausch der Sujets. Er ist davon überzeugt, daß – so nahe er sich auch insbesondere Brentano und Chamisso wähnt – die Zeit der Romantik abgelaufen ist und sie nur noch in den Niederungen der Unterhaltungsliteratur für die gebildete Damenwelt nachhallt. Die alte Zeit, aus der sie schöpfte, ist dahin und rückt durch technische und gesellschaftliche Veränderungen ferner und ferner. Der Abschied ist, anders als etwa bei Heine, frei von Spott, sondern von Respekt und Wehmut erfüllt, aber dennoch ein unwiderruflicher. Je mehr die reale Gegenwart in seine Gedichte Einzug hält, desto weniger vermag er politischen Themen auszuweichen.

Nach seiner Übersiedlung 1842 rheinaufwärts nach Sankt Goar pflegt er regen Kontakt mit Schriftstellern wie Berthold Auerbach, Justinus Kerner, Emanuel Geibel sowie August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und findet Anschluß an die liberale Verfassungsbewegung. Allerdings vermeint er, einer Vereinnahmung seines Werks für politische Zwecke entgehen zu können („Der Dichter steht auf einer höhern Warte/ Als auf den Zinnen der Partei“) und gerät darüber in eine Polemik mit Georg Herwegh, dem er vorwirft, sein Talent für Agitation zu verschwenden. Der Kritisierte bezichtigt ihn seinerseits, durch die Annahme einer Apanage ausgerechnet von Friedrich Wilhelm IV. selbst Partei, und zwar für die Herrschenden, ergriffen zu haben. Auf diese königliche Zuwendung verzichtet Freiligrath 1844, über die Gründe ist in der – spärlichen – biographischen Literatur seither weidlich spekuliert worden. Die zeitgleich veröffentlichte Gedichtesammlung „Ein Glaubenbekenntnis“ wird dem Anspruch ihres Titels jedenfalls gerecht und läßt ihn zu einem mit revolutionärem Pathos nicht geizenden Wortführer der unversöhnlichen radikalen Demokratie werden. Die Konsequenz ist die erzwungene Exilierung, zunächst nach Brüssel, wo er Karl Marx begegnet, dann in die Schweiz und schließlich nach London.

Als 1848 die Revolution zunächst in Frankreich und sogleich auch in Deutschland ausbricht, ist Freiligrath gerade im Begriff, mit seiner Familie von England nach Amerika überzusiedeln. Er ändert seinen Plan und eilt nach Düsseldorf, um in die Geschehnisse einzugreifen. Dieses Engagement ist ein dezidiert literarisches, anders als andere Dichter des Vormärz drängt es ihn nicht in die praktische Politik. In Köln tritt er in die Redaktion der von Marx herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung ein, in der er bis zu deren Verbot Gedichte und Übersetzungen publiziert.

Freiligrath wird sogar Mitglied im Bund der Communisten, einem jedoch weniger von den Zeitgenossen als nachträglich von der Hagiographie der Arbeiterbewegung gewürdigten Konventikel, dem gerade einmal 17 Intellektuelle angehört haben sollen. Auch wenn in seinen Gedichten nun neben dem schwarzrotgoldenen Panier mehr und mehr die rote Fahne besungen wird, so darf seine Verwurzelung in den Anschauungen des frühen Sozialismus als eher gering angesehen werden. „Er war ein Revolutionär aus dichterischer Anschauung, nicht aus wissenschaftlicher Erkenntnis“, urteilte der Marx-Biograph Franz Mehring ein Menschenalter später.

1850, die Revolution ist längst niedergeschlagen, nimmt er Quartier wiederum in der Nähe von Düsseldorf, muß jedoch schon nach kurzer Zeit, um einer drohenden Verhaftung zuvorzukommen, erneut den Gang ins Exil antreten. Nahezu zwei Jahrzehnte wird London ihm Zuflucht bieten, er nimmt 1858 sogar die britische Staatsbürgerschaft an. Die zunehmende Distanz zu den Entwicklungen in Deutschland, die er selbst konstatiert, ist nicht allein der wirtschaftlichen Notwendigkeit geschuldet, wieder als Kaufmann erwerbstätig zu sein. Auch die fruchtlose Selbstzerfleischung der Exilkreise erweckt seinen Abscheu, eine der ungezählten für die Nachgeborenen kaum nachvollziehbaren Intrigen führt schließlich zu seinem Zerwürfnis mit Karl Marx. Wie zahlreiche andere Alt-48er sieht er den in der Reichsgründung mündenden Einigungsprozeß im Sinne der revolutionären Ziele von einst als einen Teilerfolg, auch wenn er unter der Ägide des autoritär regierenden Bismarcks steht und demokratische Forderungen unerfüllt bleiben.

„Die Freiheit ist die Nation“: Diese Maxime erschien der preußischen Regierung als ungefährlich genug, um eine öffentliche Geldsammlung dulden zu können, die Freiligrath ein sorgenfreies Leben im Alter erlauben sollte. Ihr Ergebnis übertraf alle Erwartungen, so daß der früh alt gewordene Schriftsteller, dessen Produktivität kaum zu mehr als Gelegenheitsgedichten langte, nach Deutschland zurückkehren konnte. Von einer „Versöhnung“ mit den deutschen Verhältnissen war gleichwohl nicht zu sprechen. Freiligrath blieb auf Distanz zu Preußen und ließ sich zunächst in Stuttgart und schließlich in Cannstatt nieder, wo er am 18. März 1876 starb und unter großer öffentlicher Anteilnahme beigesetzt wurde. Sein geistiges Erbe beanspruchte die aufstrebende und sich keineswegs als „vaterlandslos“ empfindende Sozialdemokratie für sich.

Foto: Ferdinand Freiligrath: Zivilisationskritik auf Umwegen

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