© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

Preußen – eine humane Bilanz: Eine Serie von Ehrhardt Bödecker / Teil 1
Korrekturen eines Zerrbilds sind nötig
Ehrhardt Bödecker, Gründer des „Brandenburg-Preußen Museums Wustrau“, berichtigt gängige Preußenklischees / Auszüge aus seinem neuesten Buch

Der Zweite Weltkrieg, der bisher verlustreichste aller Kriege, wurde nicht nur mit dem Ruhen der Waffen, Gebietsverlusten, Flucht und Vertreibung und Reparationen, die dem Besiegten von den Siegern auferlegt wurden, beendet, sondern von den Deutschen wurde als den Besiegten noch zusätzlich eine geistige Unterwerfung erwartet, wie sie in dieser Art bei den bisherigen europäischen Konflikten noch nicht vorgekommen ist. Die US-Regierung hatte Soziologen, Psychologen und Historiker zusammengezogen, um den Deutschen die Verderbtheit ihrer Geschichte vor Augen zu führen. Gemeint war das böse Erbe fehlender Parlamentarisierung und Demokratisierung, es wäre der Fluch der preußischen Staatsauffassung. Die Deutungsmacht über die deutsche Geschichte maßten sich die US-Sozialwissenschaftler an. Es war die Rede von der Abweichung Deutschlands von den sogenannten westlichen Normen. Diese Grundauffassung richtete sich vor allem gegen Preußen.

Wie der Historiker Andreas Hillgruber feststellte, wollten die Alliierten, trotz ihres Wissens um die Vernichtung der Juden durch den NS-Staat, vor allem Preußen materiell und geistig zerschlagen. In Preußen sah man immer noch den gefährlichsten Gegner. Der Nationalsozialismus war nach US-Auffassung eine politische Idee, die man mit den modernen Beeinflussungsmitteln nachhaltig ausmerzen könnte, aber Preußen war eine Haltung, ein Lebensstil, der sich nicht so einfach verändern ließe. Trotzdem wurde das Ziel der Ausmerzung dieser Idee angestrebt. In ihrer Abneigung gegenüber Preußen spielte die Vertreibung der Ostdeutschen der Urpreußen schon vor dem Beginn des Krieges mit der Sowjetunion bei der englischen Regierung eine zentrale Rolle. Die britische Regierung (demokratisch gewählt) drängte seit 1942 auf eine umfassende Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und dem Sudetenland. Notfalls war nach britischer Ansicht auch die Anwendung von Terror notwendig, wenn die bäuerliche Bevölkerung entwurzelt werden müsse. Der britische Unterstaatssekretär Sargent forderte sogar, die Preußen aus Ostpreußen und Schlesien nach Sibirien. Diesem grausamen Menschentransfer stimmte der (demokratisch gewählte) amerikanische Präsident Roosevelt zu, der die Welt ständig glauben machen wollte, er führe den Krieg zur Bewahrung der Menschlichkeit und zur Anerkennung der Menschenwürde. Da mit dieser Vertreibung ein Machtgewinn für die Sowjetunion verbunden war, stimmte natürlich auch Stalin dieser in London ausgebrüteten Vertreibung von 13 Millionen Menschen zu.

Die antipreußische Politik wurde geistig und psychologisch geführt. Die deutsche Lizenzpresse durfte nicht „Friedrich der Große“ schreiben, sondern nur „Friedrich II“. Der preußisch militärische Widerstand mit den preußischen Traditionsnamen Tresckow, Witzleben, Kleist, Hardenberg, von der Schulenburg, Lynar und den vielen anderen sollte in den Zeitungen nicht erwähnt werden, weil das der antipreußischen Umerziehung nicht entsprochen hätte. (Michael Balfour, 1946 englischer Presseoffizier, auf der Historikertagung in London im Jahr 1974: „...to suppress the publication of information about the ‘German Widerstand’ on the grounds that it was inconvenient to the policies (of Reeducation) of those Governments (Lothar Kettenacker: „Das andere Deutschland“, Stuttgart 1977).

Auch das „manual for the control of German information services“ vom 12. Mai 1945 sieht es als Teil der Umerziehungsaufgabe an, preußische Konservative keinesfalls in den Medien (Lizenzpresse) zu Wort kommen zu lassen. Ein bekennender Gegner des Nationalsozialismus war der Sozialdemokrat und preußische Innenminister Carl Severing, dem trotz seiner politischen Gesinnung eine Lizenz zur Herausgabe einer Zeitung verwehrt wurde. (...) Sie sahen Severing als zu preußisch an für einen Herausgeber einer „freien“ Presse. Gerade im Fall Severing zeigt sich die antipreußische Stoßrichtung der alliierten Umerziehungspolitik besonders deutlich. (...)

Doch um die Deutungsmacht über die deutsche Geschichte wirksam zu erringen, brauchten die alliierten Umerzieher deutsche Helfer. Sie waren in Politik und Wissenschaft schnell und zahlreich zur Hand. „Ein jeglicher wollte als nächster neben dem Sieger sich blähen“, (Goethe: Reineke Fuchs). Unter den deutschen Historikern begann trotz gleichartiger gemeinsamer Ziele eine heftige Auseinandersetzung über die Deutung der deutschen Geschichte: Sonderweg, Einzigartigkeit, Kollektivschuld, Aggressivität, Kontinuität, Historikerstreit, apologetisch, konservativ, sozialistisch und wie die Schlagworte bei der Deutung der preußischen Geschichte noch geheißen haben mögen. „In enger Fühlungnahme mit westlicher ‘Forschung’ sei die neue Position der Historiker erarbeitet worden‘, das schrieb der Historiker Wolfgang Mommsen am 1. Juli 1986 in der Frankfurter Rundschau. Die historische Forschung habe sich an den demokratischen Grundwerten zu orientieren, und dabei sei der preußische Staat zur Unperson verdammt worden. (...)

Einige Jahre später allerdings schilderte derselbe Wolfgang Mommsen die deutsche Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte in seinem zweibändigen Werk über das Kaiserreich, das in den Jahren 1993 bis 1995 erschienen ist: „Die deutsche Geschichte über das Kaiserreich sei zunächst in allzu rosigem Licht gesehen worden, dann sei eine unabweisbare Neuorientierung erfolgt, sodann eine Revision des älteren Bildes vom Kaiserreich, und nun sei in der Tat eine umfassende Deutung überfällig, die eine angemessene Würdigung der großen Leistungen und Hervorbringungen dieser Zeit enthalten müsse.“ Damit hat ein durchaus nicht konservativ denkender Historiker zugegeben, daß über die preußische Geschichte unzureichend berichtet wurde. Unter den Historikern wurde in der Auseinandersetzung über die deutsche Geschichte jede Erwähnung von Fakten vermieden, nicht einmal eine überzeugende Begründung ihrer Bekenntnisse und apodiktisch vorgetragenen Glaubenssätze wurde von den Diskutanten für notwendig erachtet. (...)

In Anlehnung an Otto Braun (1872–1955), dem letzten preußischen Ministerpräsidenten in Deutschland, kann dem internationalen Antipreußenkoller nicht mit Behauptungen, sondern nur mit Fakten begegnet werden: anhand von einzelnen Schlüsselthemen soll in folgender Serie darauf hingewiesen werden.

Fortsetzung in der nächsten JF

Foto: Potsdamer Stadtschloß nach 1945: Das Ziel der Alliierten war die geistige und psychologische Ausmerzung einer Haltung, eines Lebenstils, der auf Preußen zurückging

Ehrhardt Bödecker, Preußen – eine humane Bilanz
Olzog Verlag, München 2010, geb., 142 Seiten, Abb, 16,90 EUR, Best.-Nr.: 90767

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