© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Wir stehen zusammen
Fußball in Freud und Leid: Allein im Sport findet unsere Nation unverkrampft zu sich selbst
Michael Paulwitz

Schwarz-Rot-Gold, wohin man schaut. Kein Nationalfeiertag kann Deutschland so nachhaltig in patriotischen Fahnenschmuck hüllen wie ein internationaler Fußballwettbewerb. Von Hüten und Hausfassaden, von Autofenstern und neuerdings auch Kfz-Rückspiegeln – und leider auch von garstigen pseudo-afrikanischen Plastiktröten – grüßen in diesen Wochen wieder die Farben der Republik. Selbst Verbandsfunktionäre auf dem Weg zum gesundheitspolitischen Spitzengespräch hat man am Tag des Serbien-Spiels mit griffbereiter Deutschlandflagge gesichtet. Wer geglaubt, gefürchtet oder auch gehofft haben sollte, die Schwarz-Rot-Gold-Begeisterung des „Sommermärchens“ der Weltmeisterschaft in Deutschland vor vier Jahren sei ein einmaliger Ausrutscher gewesen, hat sich offenbar gründlich getäuscht.

Sogar die notorischen Nörgler und Bedenkenträger sind leiser geworden. Grüne Spitzenkader, die vor vier Jahren noch reichlich mahnende Zeigefinger emporreckten, bleiben diesmal still. Die Gouvernantendebatte, ob der Lümmel Volk sich denn überhaupt einfach so seine Nationalfarben aneignen darf, scheint inzwischen erledigt, sieht man einmal vom harten Kern linksradikaler Nationsverächter ab, die sich mit ihrem pathologischen Haß auf alles Deutsche eher selbst ins Abseits stellen. Deren infantile Aufrufe zum Stehlen und Zerstören schwarzrotgoldener Flaggen und Fanartikel bestätigen zunächst nur einmal mehr, daß Extremismus gleich welcher Couleur eben doch vor allem ein „Intelligenzproblem“ (Martin Lichtmesz) ist.

Natürlich wissen wohl die wenigsten der Spontan-Fans, die sich pünktlich zur WM wieder mit schwarzrotgoldenen Flaggen und Attributen eingedeckt haben, um die ehrwürdige Geschichte und Tradition unserer republikanischen Freiheitsfarben. Der Einwand, bei vielen stehe gar kein ernsthaft empfundener Patriotismus hinter dem Flagge-Zeigen, sondern oberflächlicher „Partyotismus“, das Aufspringen auf eine gerade angesagte Feiermode, ist nicht falsch. Und auch das Unbehagen an der als Profanierung empfundenen plötzlichen ubiquitären Verwendung von Dreifarb und Staatsflagge ist in mancherlei Hinsicht berechtigt. Dennoch geht beides am Kern der Sache vorbei.

Zum einen nämlich hat die unerwartete Welle des „Fußball-Patriotismus“ während der WM 2006 dieses Land einen großen Schritt vorwärts in die Normalität moderner demokratischer Nationalstaaten geführt. Bei unseren europäischen Nachbarn fürchtet niemand, Anstoß zu erregen, wenn er im Stadion die Flagge schwingt oder im Hochgefühl die Nationalhymne intoniert. Daß anläßlich der laufenden Weltmeisterschaft manche Grundschullehrerinnen in ihren – keineswegs rein deutschen – Klassen „Einigkeit und Recht und Freiheit“ lernen lassen und Sachtexte über die Entstehung des Lieds der Deutschen durchnehmen, ist nur ein ermutigendes Indiz für die allmähliche Wiederkehr des Selbstverständlichen.

Längst auch ist die neue Unbefangenheit im Gebrauch der Nationalsymbole, die vor vier Jahren in Stadien und Fanmeilen ihren Anfang genommen hat, nicht mehr auf Fußball-Schlachtenbummler beschränkt. Lässig und selbstbewußt freuten sich zum Beispiel Lena Meyer-Landrut und Stefan Raab mit der Deutschlandfahne über den Titelgewinn beim europäischen Pop-Wettbewerb in Oslo. Man trägt wieder Schwarz-Rot-Gold – es sollte unbelehrbaren doktrinären Linksideologen überlassen bleiben, aus Zorn über diese an sich erfreuliche Entwicklung wieder und wieder in die Tischkante zu beißen.

Daß patriotische Gefühle ohne Schuldreflex und schlechtes Gewissen sich bislang nur im Rahmen von Sport- und Unterhaltungswettbewerben regen, ist im übrigen weniger dem unpolitischen Volk vorzuwerfen als seinen verklemmten politischen und medialen Eliten. Unabhängig davon, ob die Deutschen bei dieser WM noch mit ihrer Mannschaft mitfiebern können: Spätestens nach dem Ausscheiden wird mancher die Leerstelle beim Gebrauch der Nationalfarben im öffentlichen Leben wieder schmerzlich vermissen.

Es liegt eben nicht am Volk allein, daß die schwarzrotgoldenen Flaggen, die bei internationalen Sportbegegnungen so freudig präsentiert werden, an Nationalfeiertagen gelangweilt eingerollt bleiben. Die Staatsverwalter selbst verstecken, getrieben von fast krankhaftem Mißtrauen gegenüber möglichen patriotischen Regungen des eigenen Volkes, die Nationalsymbole im Alltagsleben, statt beispielsweise öffentliche Gebäude, Schulen und Kindergärten selbstbewußt damit zu schmücken.

Weil das so ist, und weil man in Deutschland nationale Feiertage von offizieller Seite entweder als sterilen Gedenkakt in geschlossener Gesellschaft oder als harmloses Bier- und Würstchenfest zu begehen pflegt, bleibt die Befriedigung der Sehnsucht nach dem Wir-Erlebnis, das sich positiv mit dem Empfinden der Zugehörigkeit zur eigenen Nation verbindet, vorerst noch auf das unpolitische Feld von Sport und Unterhaltung beschränkt.

Diese Bewußtseinsspaltung ist bedauerlich. Gelebter Alltags-Patriotismus stärkt nämlich die Bindekräfte eines Gemeinwesens auch unterbewußt und ohne umfassende theoretische Fundamentierung. Er kann auch mehr für die Integration von Einwanderern tun als die durchsichtige Propaganda, für die Politik und Medien die Nationalmannschaft zu instrumentalisieren suchen, obwohl sich die Behauptung von der Integration durch Sport durch einen Blick auf die heillos zerstrittene und mehrheitlich aus Einwanderern bestehende französische Equipe genausogut ins Gegenteil wenden ließe.

Neurosen lassen sich indes überwinden – auch Nationalneurosen. Wenn diejenigen, die eigentlich dabei helfen sollten, dagegen arbeiten, dauert es nur etwas länger. Das Volk ist hier offenbar schon ein paar Schritte weiter als seine Politiker. Für Demokraten ist das durchaus nichts Beunruhigendes.

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