© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Kunst wider die Barbarei
Gesang inmitten von Ruinen: Original-Tondokumente erzählen von der Dresdner Stunde Null
Jens Knorr

In den Tagen des Jahrhunderthochwassers, so geht die Geschichte, steht ein kleiner Junge am Absperrband vor dem Dresdner Opernhaus, um seine Sparbüchse samt seinem Erspartem abzugeben: für die Semper­oper. Nun mag man fragen, was die paar Cent eines Hosenknopfes bei einer Schadenssumme von zig Millionen Euro schon ausrichten können. Wer so fragt, der verkennt die Bedeutung des Opernhauses für die Dresdner, ob Operngänger oder nicht. Wer so fragt, der kann kein Dresdner sein!

Alle Mythen über die Dresdner und ihre Semperoper sind so falsch, wie sie richtig sind. Wohl hatte man vor ihrer Zerstörung 1945 auch mittelmäßige Vorstellungen erleben müssen, wenn auch nicht in der Dichte wie nach ihrer Wiedereröffnung am 13. Februar 1985. Wohl hatte man 1933 die Vertreibung des großen Fritz Busch vom Dirigentenpult der Staatskapelle aus politischem Opportunismus hingenommen, wie 1989 das Scheitern der Uraufführung von Jörg Herchets „Nachtwache“ an Bequemlichkeit aus Unzulänglichkeit des Dresdner Staatsopernchors. Vier Jahre bewältigte der Leipziger Opernchor seinen Part mühelos. Wohl hatte man, wie andernorts auch, allzuoft die Asche bewahrt, wo es darauf angekommen wäre, die Glut zu schüren. Und doch war und ist das Dresdner Opernhaus spürbar anders als andere Opernhäuser, selbst noch in den öden Stunden routinierter Reprisen, in den Sternstunden großer Opernabende sowieso.

Derer eine oder andere war zwar auf dem „grauen“ Tonträger-Markt zu haben, oft allerdings von zweifelhafter tontechnischer Qualität, doch seit nunmehr vier Jahren auch mustergültig, mit historischem Verständnis restauriert innerhalb der „Edition Dresdner Staatskapelle“ bei Profil Hänssler. Nun hat die Edition eine Schwester bekommen, die „Semper­oper-Edition“, und pünktlich zum 25. Jubiläum der Wiedereröffnung des am 13. Februar 1945 in Schutt und Asche gelegten Hauses erschien die erste Folge „‘Gott! Welch Dunkel hier…’ Die Stunde Null“, eine Dokumentation des künstlerischen Neubeginns nach 1945 auf drei CDs, einer DVD und in einem 240seitigen Buch.

Das war die mythische Zeit der Semperoper, uns Nachgeborenen längst ins Überwirkliche entrückt, da die Menschen stundenlange Fahrten mit der Straßenbahn auf sich nahmen, wie Trauben an den offenen Türen der Linie 11 hängend, um Aufführungen des Dresdner Ensembles im Kurhaus Bühlau, der „Kulturscheune“, hören und sehen zu können. Denn lag auch die Stadt so wüst – wie es in der ergreifenden Motette von Rudolf Mauersberger heißt, entstanden am Karfreitag und Karsamstag 1945, uraufgeführt im August selben Jahres in der Ruine der Kreuzkirche und in einer Aufnahme des Kreuzchors von 1952 auf der DVD zu hören – und standen auch die inneren Verwüstungen der Menschen den äußeren nicht nach, so hatten „Bomber-Harris“ und sein Dienstherr Churchill das Ziel ihres „morale bombing“ doch verfehlt. Der industriell betriebene Massenmord an der deutschen Zivilbevölkerung hatte diese nicht brechen können, sondern zu ebenjener Schicksals- und Kulturgemeinschaft zusammengeschweißt, die der Nationalsozialismus angestrebt, jedoch nicht eingelöst hatte.

Und wie sie die Glut aus der Asche schürten, kaum daß sie sich wieder zusammengefunden hatten: „Wie fremd und tot ist alles umher, und war doch so voll Liebe. Die Welt hat keine Freude mehr …“, singt die Marie aus der „Verkauften Braut“, und in Maries Verzweiflung über den vermeintlichen Verrat ihres Liebsten Hans läßt Elfriede Weidlich eine viel umfassendere Verzweiflung aufklingen, noch 1950.

„O Mond, verlisch mir nicht“, läßt Elfride Trötschel das Naturwesen Rusalka so inständig flehen, daß die Aufnahme von 1947 den Hörer taub macht gegen alle Aufnahmen des Liedes davor und danach. Die frühverstorbene Trötschel, eine Dresdner Lokalgröße gewiß, aber mit dem „Lied an den Mond“ eine der ganz Großen des Jahrhunderts. In freier deutscher Textfassung appelliert Verdis Procida unmittelbar an das Dresdner Publikum, auf die eigene Kraft zu vertrauen und sich selbst zu helfen, damit die Heimat wieder in alter Pracht erstehe. Mit sängerischer Autorität steht Gottlob Frick dafür ein, daß in der Aufnahme von 1948 der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen nicht gegangen wird.

So erzählt jedes einzelne der Tondokumente eine Geschichte, eine Dresdner Geschichte. Und gleichzeitig erzählen sie ein Stück Rundfunkgeschichte, nämlich die Anfänge des Landessenders Dresden, der am 7. Dezember 1945 als Mitteldeutsche Rundfunkgesellschaft gegründet wurde: die Entstehung der ersten Bandaufnahmen von Kapelle und Oper im Steinsaal des Deutschen Hygienemuseums Dresden, im Kulturhaus Bühlau, in der Leipziger Lokalität „Deutsche Reichshallen“, im 1947 eingeweihten Sendesaal des Funkhauses in der Leipziger Springerstraße. Als tontechnischer Berater bei der Restaurierung und Wiederveröffentlichung der über 60 Jahre alten Aufnahmen aus den Beständen des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) Babelsberg konnte übrigens Toningenieur Gerhard Steinke gewonnen werden, einer der letzten Zeitzeugen dieses Beginns.

Das Buch zur Edition bringt erschütternde, ermutigende Zeitzeugenberichte, dazu den Wiederabdruck von Originalbeiträgen der künstlerischen Leitungskräfte aus den Dresdner Bühnenjahrbüchern von 1945 bis 1948, von Spielleiter Heinz Arnold, Bühnenbildner Karl von Appen, Kostümbildnerin Charlotte Vocke, Dramaturg Günter Hauswald, Fotografien der Stadt vor ihrer Zerstörung und von der zerstörten Stadt – darunter die berühmte von Richard Peters, aufgenommen vom Dresdner Rathausturm aus, im Vordergrund die Steinfigur, die mit ratloser Geste über die Trümmerwüste weist –, Fotografien vom Neubeginn der Stadt, der Oper und der Kapelle, faksimilierte Originaldokumente, Programmzettel, Szenenbilder, Figurinen, Kritiken: jede Seite eine Entdeckung!

In ihren Berichten, auf der DVD versammelt, suchen die Sängerinnen Christel Goltz und Lisa Otto und der Dirigent Joseph Keilberth, alle zur richtigen Zeit am richtigen Ort, die richtigen Worte zu finden für die Erfahrung des ganz Besonderen, Unwiederbringlichen dieser Zeit, als man darangegangen war, Oper zu singen, wie man sie noch nie gesungen, Oper zu hören, wie man sie noch nie gehört hatte.

Für diese kurze Stunde Null scheint der Traum aller Künstler wahr geworden zu sein – der Gleichklang der Erfahrungen von Künstler und Publikum –, so daß es den Anschein haben konnte, als bedurfte es gar nicht ihrer Vermittlung, um ein Stück zur lebendigen Aufführung, die ja erst das Werk ist, zu bringen, weil jede Note durch sie hindurch, ganz unmittelbar – um mit Beethovens Leonore zu sprechen: – in die Tiefe des Herzens traf.

Aus diesem Beginn wohl muß sich der feste Glaube der Dresdner an den Wiederaufbau ihrer Semperoper gespeist haben. Wo Taminos Flöte nach dem Feuersturm erklingen, wo Salomes Liebe über den Tod triumphieren, wo inmitten einer Ruinenlandschaft gesungen werden konnte, die doch einem jeden die Kehle hätte zuschnüren müssen, da sollte der Wiederaufbau eines der fensterlosen Häuser für die Kunst die leichtere Übung sein.

Gewiß ist kein Kunstwerk, das nicht zugleich immer auch ein Zeugnis der Barbarei wäre. Aber es ist auch kein Kunstwerk, das nicht wider die Barbarei zeugte, selbst da noch, wo es nur von ihr zeugen will. Lassen sich schärfere Anklagen gegen den Bombenterror erheben, lassen sich dringlichere Einwände gegen das kürzlich vorgelegte Gefälligkeitsgutachten vorbringen, in dem die Zahl der Dresdner Bombenopfer unter das politisch vorgegebene Limit heruntergerechnet wurde, als die Tondokumente der von den Überlebenden für die Überlebenden musizierten Lebenshilfe? Wäre es unzulässig, aus den Zeugnissen ihres Überlebenswillens Rückschlüsse auf das kollektive Schicksal zu ziehen, das über sie verhängt worden war und unzählbar viele von ihnen ereilt hatte – auch quantitative Rückschlüsse?

Die Vernichtung seiner kulturellen Substanz sollte das deutsche Volk vernichten. Das war Ziel des „morale bombing“. Aber um dieses Ziel zu erreichen, hätte man schon das ganze deutsche Volk bis auf den letzten Mann vernichten müssen. Der existentielle Zusammenhang zwischen Volk und Kultur war den Dresdnern der Stunde Null wohlbewußt: jenen, die in Eiseskälte sangen und musizierten, und jenen, die ihren Eintritt mit Briketts entrichteten und nicht nur im übertragenen, sondern im ganz profanen Sinne halfen, die Glut zu schüren.

Wir wissen nicht, ob der Dresdner Junge des Jahres 2002 noch eine Ahnung dieses großen Zusammenhangs hatte, wir wissen nicht einmal, ob er die Semperoper jemals von innen gesehen hatte, aber wir wissen sicher, daß er wohl begriffen hatte, mit dem Herzen begriffen, daß sie das Herzstück seiner Stadt ist. Angesichts der aktuellen Situation von Volk und Kultur fällt es schwer, die historischen Aufnahmen nur als historische zu hören.

„Gott! Welch Dunkel hier“… Die Stunde Null. Dresdner Opernszenen in ersten Rundfunkaufnahmen nach 1945. Semperoper Edition Vol. 1. Profil Hänssler PH 10007

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