© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Von Volkes Gnaden
Bundespräsident: Ein Blick in die Nachbarländer zeigt, daß die Direktwahl des Staatsoberhauptes die Verfassungsordnung nicht aus den Angeln heben würde
Gerhard Vierfuss

Der Bundespräsident wird ohne Aussprache von der Bundesversammlung gewählt“ (Artikel 54 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes). In periodischen Abständen sorgt diese Bestimmung für immergleiche politische Diskussionen: Ist es wirklich eine weise Regelung? Oder wäre es sinnvoller, den Präsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen? Kritiker der geltenden Regelung sorgen sich wegen einer zunehmenden Erstarrung der politischen Strukturen in Deutschland; sie erhoffen sich von der Einführung einer Direktwahl eine Stärkung der Demokratie, einen Schritt zur Entwindung des Staates aus den Fängen der Parteien und eine größere Möglichkeit für die Bürger, sich mit dem obersten Repräsentanten ihres Staates – und mit diesem Staat selbst – zu identifizieren.

Die Verfechter des Status quo setzen hiergegen historische und verfassungssystematische Argumente: Das Verfahren zur Wahl des Bundespräsidenten müsse im Zusammenhang mit dessen Stellung innerhalb der Kompetenzordnung des Grundgesetzes gesehen werden; und diese wiederum sei nur zu verstehen vor dem Hintergrund der

Erfahrungen mit der starken Position des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik. Der Parlamentarische Rat habe sich bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes ganz bewußt für ein parlamentarisches System mit einem schwachen, weitgehend auf repräsentative Funktionen beschränkten Bundespräsidenten entschieden. Das indirekte Wahlverfahren sei nur die Konsequenz dieser Entscheidung: Die abgeleitete Form der Legitimation entspreche dem geringen Maß an Kompetenzen, die dem Amt zukämen.

Änderte man nun das Wahlverfahren, so käme es zu Reibungen innerhalb des politischen Gefüges: Der Bundespräsident könnte sich bei unveränderten Befugnissen durch die Direktwahl auf eine äußerst hohe Legitimation stützen – höher als die des Bundeskanzlers, höher sogar als die des Bundestages, dessen Mitglieder zur Hälfte über Listen der Parteien gewählt werden. Von seiten des Volkes sähe er sich der Erwartung gegenüber, diese Legitimation im politischen Geschäft zur Geltung zu bringen; folglich könnte er versucht sein, seine verfassungsmäßigen Kompetenzen zu überdehnen, was zu Konflikten führen müßte. Änderte sich hingegen an der Amtsführung nichts, so wäre es auch nicht besser: Dies führte zu Enttäuschung und weiterer Frustration bei den Wählern.

Dieses systemische Argument scheint zunächst durch eine vergleichende Betrachtung der europäischen Staaten bestätigt zu werden: In Frankreich etwa wird der Präsident direkt vom Volk gewählt; zugleich bildet er das Zentrum der exekutiven Macht. Umgekehrt ist es in Italien: Der Präsident wird vom Parlament gewählt, und seine Kompetenzen sind weitgehend repräsentativer Art.

Oberbefehl über die Streitkräfte

Doch, wie schon dieses „weitgehend“ andeutet: Die Abstufungen in der Machtbalance der einzelnen Länder zwischen Staatspräsident und Regierungschef sind zu vielfältig, die Beziehungen zwischen jeweiliger Verfassungstheorie und -praxis zu komplex, als daß sich die These einer notwendigen Korrelation zwischen Direktwahl des Präsidenten und großer Machtfülle empirisch begründen ließe.

Im Gegenteil: Sie läßt sich widerlegen, und zwar durch einen Blick zu unserem südlichen Nachbarn, nach Österreich. Der dortige Bundespräsident wird direkt vom Volk gewählt; die von ihm ausgeübten Funktionen sind jedoch weitgehend repräsentativer Art und entsprechen denjenigen des deutschen Bundespräsidenten. Die Exekutive liegt wie in Deutschland in den Händen des Bundeskanzlers und seiner Regierung. Und ist dieser Befund angesichts der These von dem Zusammenhang zwischen Wahlverfahren und Bedeutung des Amtes schon überraschend, so steigt die Verwunderung noch erheblich bei einer Lektüre des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG): Dieses beschränkt den Bundespräsidenten keineswegs auf eine derart marginale Funktion. Sie ist vielmehr Ergebnis der praktischen Politik.

Das in Österreich seit 1929, mit einer Unterbrechung von 1934 bis 1945, in Grundzügen bis heute gültige B-VG weist dem Bundespräsidenten eine Stellung zu, die derjenigen des damaligen deutschen Reichspräsidenten nachgebildet ist: So ernennt er den Bundeskanzler, er hat den formellen Oberbefehl über die Streitkräfte, er kann den Nationalrat auflösen und hat sogar ein – gegenüber dem des Reichspräsidenten eingeschränktes – Notverordungsrecht. Trotz dieser de iure bestehenden großen Machtfülle und ungeachtet der durch die direkte Volkswahl gegebenen hohen Legitimation des Amtes gab es in Österreich von Anfang an einen Konsens darüber, daß der Bundespräsident sich aus der Regierungspolitik herauszuhalten habe. Für diese Selbstbeschränkung hat sich die Bezeichnung „Rollenverzicht“ eingebürgert.

Das Beispiel Österreichs zeigt, daß die angebliche Unverträglichkeit von parlamentarischer Demokratie mit einem weitgehend auf Repräsentativfunktionen begrenzten Staatsoberhaupt einerseits und Direktwahl dieses Staatsoberhaupts durch das Volk andererseits bloße Fiktion ist. Es läßt sich freilich auch noch anders verstehen: Allzu große Hoffnungen sollte man an dieses Instrument nicht knüpfen.

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