© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Hinter dem Lächeln
Mönch, Popstar, Gottkönig, Staatsmann: Die vielen Gesichter des Dalai Lama, der jetzt fünfundsiebzig wird
Baal Müller

Auch heute noch gibt es Tibeter oder Mongolen, die den Himalaya zu Fuß durchqueren und sich dabei unzählige Male aus Demut niederwerfen, um einer vom Dalai Lama in seiner indischen Exilresidenz in Dharamsala gegebenen Initiation beizuwohnen, und es gibt westliche Buddhisten, die eine kombinierte Fahr- und Eintrittskarte erwerben, um eine ähnliche Veranstaltung des Dalai Lama in einem umfunktionierten Fußballstadion zu erleben. Man kann die einen als glaubensstark oder als abergläubisch charakterisieren, die anderen als spirituell interessierte Weltbürger oder als oberflächliche Religionskonsumenten bezeichnen – wobei hinzuzufügen wäre, daß dasselbe Publikum auch evangelische Kirchentage besucht oder katholische Wallfahrten neu entdeckt.

Das Bemerkenswerteste ist, daß „der einfache Mönch“, wie sich der am 5. Juli 1935 in einem osttibetischen Dorf geborene Bauernsohn Lhamo Döndrub mit der ihm eigenen Koketterie gerne nennt, beides sein kann: für die einen ist Tenzin Gyatso – so sein geistlicher Name – die Emanation des Chenrezig, des „Boddhisattvas des Mitgefühls“, für die anderen eine Mischung aus Popstar und religiösem Führer.

Wiederherstellung alter Sittenstrenge

Von beiden Rollen nicht zu trennen ist der Staatsmann, der ebenso unterschiedliche Facetten aufweist: die des entthronten „Gottkönigs“ oder die eines globalen Gewissens, das für seinen Einsatz für die Menschenrechte der Tibeter 1989 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Für manche Verschwörungstheoretiker ist er gar – aufgrund einer Mischung von Halbwissen und Faszination, die von der so fremdartigen Welt ausgeht, der er entstammt – das Oberhaupt einer spirituellen Weltrevolution; doch auch die Gutmenschen, die ihn für sich reklamieren, „mußten in der Regel verwundert erfahren, daß er nicht bereit war, ihre Sache zu unterstützen“. Und, so Alexander Norman in seinem Buch „Das geheime Leben der Dalai Lamas“ (2007), weiter: „Erst wenn wir Tenzin Gyatso in den Rahmen der Institution der Dalai Lamas und der religiösen, kulturellen und politischen Kräfte stellen, die sie geprägt haben, erkennen wir, daß das populäre Bild vom Dalai Lama – als Freund von jedermann (…), der jedem von uns Erleichterung spendet, ein spiritueller Lehrer, der uns stärkt, ohne Reue zu verlangen, der tröstet, ohne Buße zu fordern, ein politisch korrekter Gott für eine gottlose Welt – eine romantische Fiktion ist.“

Allzu leicht wird übersehen, daß er Abtreibungen ähnlich kategorisch ablehnt wie der Papst, die „zölibatäre“ Lebensweise der Mönche niemals in Frage gestellt hat – der von dem großen buddhistischen Meister Tsongkhapa begründete und heute vom Dalai Lama repräsentierte Gelug-Orden wird wegen seiner Wiederherstellung alter Sittenstrenge als „Schule der Tugendhaften“ bezeichnet –, und daß sein humanitärer Kampf für das zumindest kulturelle Selbstbestimmungsrecht der Tibeter auch die scharfe Kritik an der Überfremdungspolitik durch planmäßige Ansiedlung von Chinesen in Tibet einschließt.

Es wäre zwar verfehlt, hier von einem „Ethnopluralismus“ sprechen zu wollen, der der Auffassung des Mahayana-Buddhismus, daß alles mit allem in Zusammenhang steht, zuwiderliefe, aber es ist auch hervorzuheben, daß die Vorstellung des Dalai Lama von einem Dialog der Kulturen durchaus deren Verschiedenheit impliziert.

In diesem Kontext ist auch sein Rat an westliche Sinnsucher zu sehen, sich erst einmal mit ihrer eigenen religiösen Tradition auseinanderzusetzen, statt sich voreilig für den Buddhismus zu begeistern. Gleichwohl ist dessen wachsende Popularität in Europa – insbesondere in seiner tibetischen Ausprägung, nachdem sich die erste größere Rezeptionswelle in den zwanziger Jahren auf den südostasiatischen Theravada- und die zweite nach dem Krieg auf den japanischen Zen-Buddhismus stützte – entscheidend mit dem Wirken des Dalai Lama und der Gründung zahlreicher tibetisch-buddhistischer Zentren verbunden. Ohne daß es so etwas wie eine buddhistische Mission gäbe, stieß diese vordergründig fremde, bei näherem Hinsehen aber mit dem indoeuropäischen Erbe auch der Europäer sowie mit der antiken Philosophie verwandte Religion in das durch die Säkularisierung entstandene Vakuum.

Sein Lebensziel hat er noch nicht erreicht

Eher als das Christentum, dem in Reformation, Renaissance und Aufklärung die Freiheiten von religiösem Bekenntnis, politischer Orientierung und wissenschaftlicher Forschung abgetrotzt werden mußten, ist der Buddhismus, gerade aufgrund seiner Geringschätzung des „Samsara“, der irdischen Welt der ewigen Wiederkehr des Gleichen, mit einer kritisch-rationalen Haltung zu vereinbaren; schließlich forderte der historische Buddha die genaue Prüfung seiner Lehren und nicht etwa deren Übernahme aufgrund seiner Autorität, und auch für den Dalai Lama, der jährlich führende Wissenschaftler zu Konferenzen an dem von ihm mitbegründeten Mind and Life Institute einlädt, ist es mit dem Geiste des Buddhismus vereinbar, dessen Positionen unter dem Gesichtspunkt fortschreitender Erkenntnis zu überprüfen und nötigenfalls zu revidieren.

Daß er selbst zu solchen Revisionen fähig ist (und dabei seine gläubigen Anhänger oft überfordert), hat er durch seine Reformen des von den Klöstern getragenen tibetischen Bildungswesens sowie der politischen Strukturen der tibetischen Exilgemeinschaft bewiesen.

Sein Lebensziel, auf das er seit dem chinesischen Einmarsch in Tibet 1949/50 und seiner Flucht ins indische Exil im März 1959 hinarbeitet – die Erlangung zumindest derjenigen Autonomie für sein Land, wie sie im 17-Punkte-Abkommen von 1971 von Mao Zedong zugesichert wurde –, hat er auch mit fünfundsiebzig Jahren noch nicht erreicht; zweifellos aber ist es ihm gelungen, die einzigartige tibetische Kultur gerade durch ihre Globalisierung zu retten.

Zu seinem Reformwillen gehört auch, die ursprünglich rein spirituelle Institution des Dalai Lama, die lediglich durch mongolischen Einfluß im 17. Jahrhundert politisiert wurde, eines Tages wieder auf ihre religiösen Funktionen zu beschränken – wenn es gelungen ist, einen für das tibetische Volk erträglichen Status zu finden. Der Weg bis dahin mag steinig sein, aber eine Alternative zur Politik des 14. Dalai Lama wird es, wie die blutigen und erfolglosen Unabhängigkeitskämpfe der Basken, Tschetschenen oder Kurden zeigen, auch für seinen Nachfolger nicht geben.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen