© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Im Nacken der Gewehrlauf
Wiederaneignung der Geschichte: Das Stück „Staats-Sicherheiten“ auf DVD
Christian Dorn

Noch heute – oder gerade erst jetzt? – glauben 57 Prozent der Mitteldeutschen und 19 Prozent der Westdeutschen, die DDR habe mehr gute als schlechte Seiten gehabt. Nicht von ungefähr reanimierte die Volksbühne unter Frank Castorf am vergangenen Wochenende die Idee des Kommunismus, was nach Bertolt Brecht eine selbstverständliche Sache gewesen sein muß, denn bekanntlich ist er „vernünftig, jeder versteht ihn.“

Jemand, der daran bereits in den fünfziger Jahren zweifelte, war der 1943 geborene Dieter Drewitz. Wegen seiner Briefe an den Rundfunksender RIAS in West-Berlin, in denen er Sozialismus statt Kommunismus und gesamtdeutsche Wahlen gefordert hatte, verhaftete ihn die Staatssicherheit. Wegen „fortgesetzter Verbindungsaufnahme zu einer verbrecherischen Organisation“ und „staatsgefährdender Hetze und Propaganda“ wurde er 1967 zu 18 Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Sein Schicksal ist Bestandteil des Stückes „Staats-Sicherheiten“, das 2008 am Hans-Otto- Theater Potsdam vom Regisseur Clemens Bechtel inszeniert wurde, nach einem Konzept von Lea Rosh und Renate Kreibich-Fischer. Deren Original-Aufführung ist jetzt als DVD erschienen, und dabei deutlich günstiger als die vom ZDF-Theaterkanal vertriebene, abweichende Fassung von 2009.

Das Besondere an den „Staats-Sicherheiten“, die im vergangenen Jahr mit dem Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost ausgezeichnet wurden, sind deren Protagonisten: Fünfzehn ehemalige Häftlinge aus den Stasi-Gefängnissen in Potsdam und Berlin-Hohenschönhausen berichten in dem Stück von ihren Erfahrungen vor, während und nach der Haft, unter ihnen prominente Figuren wie die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die frühere DDR-Fernsehmoderatorin Edda Schönherz und der Liedermacher Stephan Krawczyk.

In einzelnen Kapiteln – Festnahme, Transport, Untersuchungshaft, Prozeß und Freilassung – erzählen die ehemaligen „Staatsfeinde“, wie es ihnen einst ergangen ist und zitieren aus ihren Stasi-Akten. Einige von ihnen führen heute Besuchergruppen durch die Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, jenen Ort, der einst Nukleus des DDR-Repressionsapparates war, und der als Begegnungs- und Bildungsstätte in der vergangenen Woche sein zehnjähriges Bestehen feierte. Es ist ein Kampf gegen das Leugnen und Vergessen, den Krawczyk schon früh in seinem Lied „Das ist nie gewesen“ beschworen hatte, und das hier zum Vortrag gelangt: „aus den offnen Wunden fließt jetzt roter Wein, / nur, die schon verblutet, können nicht verzeih’n. // Könn’ sich nicht besaufen an Vergeßlichkeit, / weil sie sich verletzten vor der rechten Zeit, / konnten halt nicht warten, ach, du, das ist dumm: / Was uns heut gesund macht, bracht’ uns gestern um.“

Dabei mußte der Tod gar nicht nicht im physiologischen Sinne vollzogen werden. Schließlich wurde den Inhaftierten auf perfide Weise ihre Würde und Individualität geraubt, etwa durch den Verlust ihres Namens, da die Verhafteten nur noch eine Nummer waren. So erinnert sich Hans-Eberhard Zahn an „die nie gekannte Verlassenheit“ der Isolationshaft, in der er sich nach dem Vernehmer zu sehnen begann und eines Tages in Tränen ausbrach, weil dieser ihn plötzlich mit seinem Namen ansprach.

Als eine geradezu kafkaeske Inszenierung erlebte es Peter-Michael Wulkau, der „zur Klärung eines Sachverhalts“ mitgenommen wurde. Statt einer Anklage erwartete ihn die zynische Frage des Vernehmers: „Ich möchte von Ihnen wissen, warum Sie hier sind! Wir haben genügend Zeit.“

Zu den Inhaftierten gehörte auch Heidelore Rutz. Sie war zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil sie mir ihrer Familie an den Samstagstreffen der Ausreisewilligen in Jena teilgenommen hatte. Matthias Melster hatte nach drei erfolglosen Ausreiseanträgen nicht mehr demonstrieren wollen. Bei seinem Fluchtversuch Mitte der achtziger Jahre über die tschechische Grenze wurde er verhaftet. Mit einer Augenbinde weggeführt mußte er am Ende niederknien, im Nacken spürte er einen Gewehrlauf. Die Scheinerschießung sollte nicht die letzte Demütigung bleiben.

Wie damit umgehen? Harry Santos, der 1982 vergeblich versucht hatte in den Westen zu fliehen, wurden zwangsweise Haare und Bart geschoren, zudem wurde er an eine Heizung gekettet. Auf den Refrain des „Moorsoldaten“-Liedes dichtete er: „Das ist das Zuchthaus Gottes / Symbol des Sozialismus / in Aktion“. Eine berührende Form zur Wiederaneignung der eigenen Geschichte ist am Ende das Vortreten der einzelnen Stasi-Häftlinge, die ihre Anklage jeweils selbst verkünden: Zum Beispiel Hans-Eberhard Zahn, der unschuldig sieben Jahre in DDR-Haft verbüßte wegen „Gefährdung des Friedens des deutschen Volkes und der Welt“. Selten liegen Lachen und Weinen näher als in einem solchen Moment. Und die Katharsis?

Damit der Kommunismus eines Tages wirklich von jedem verstanden wird, wäre dem Stück „Staats-Sicherheiten“ eine Aufnahme in den Lehrplan der deutschen Geschichtsbücher zu wünschen. Auf der Bühne am Hans-Otto-Theater Potsdam ist es zum vorläufig letzten Mal am 30. Oktober dieses Jahres (19.30 Uhr) zu erleben.       

DVD: Staats-Sicherheiten. 15 Schicksale aus dem Gefängnis. Konzept von Lea Rosh und Renate Kreibich-Fischer. Regie: Clemens Bechtel. Darsteller: Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Edda Schönherz, Dieter Drewitz, Gilbert Furian, Matthias Melster und andere. Laufzeit: 90 Minuten.

Zu beziehen für 10 Euro über das Hans-Otto- Theater Potsdam, Schiffbauergasse 11. Telefon: 03 31 / 98 11-8, Internet: www.hansottotheater.de

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