© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Der Weltenbaumeister
Kampf zwischen Mittag und Mitternacht: Gustav Mahler und das Jüdische in seiner Musik
Jens Knorr

Einmal geschah es: die Vision brannte in mir auf: dieser dritte Satz aus Mahlers I. Sinfonie ist Judentum, ist reinstes Judentum. Hier ist alles: Marsch, Trauer, Ironie, Volksgesang, Kanon, melodische Entfaltung, Tonart, Instrumentation: hier ist alles Judentum. Es gibt kaum eine unmittelbarere Bezeugung. Und seither bin ich von dieser Vision besessen. In großen Zügen stand ja Mahlers jüdische Latenz schon lange in mir fest. Kaum an einer anderen Stelle schien sie mir weniger hörbar. Aber die beinahe erschreckende Unmittelbarkeit ist mir erstmals in diesem dritten Satz erschienen.“

Im Jahre 1926 erschien in der deutschen Verlagsanstalt ein Buch, das seinen Titel der berühmt-berüchtigten Streitschrift von K. Freigedank alias Richard Wagner, entlehnte: „Das Judentum in der Musik“. Eine Zeitschriftendebatte weiterführend, bezog sein Verfasser, der Musikpädagoge Heinrich Berl, gegen Wagner die zionistische Position und versuchte, eine jüdische Musiktradition neu zu begründen. Das wirre und zu Recht vergessene Buch des erklärten Nichtjuden Berl verweist auf die Latenz einer Fragestellung, ohne die das Phänomen Mahler schlechthin nicht erklärbar ist, nämlich was denn nun eigentlich das Jüdische an der Musik des assimilierten Juden Mahler sei.

„Für Mahlers Judentum“, meint Berl, „spricht alles: sein Ringen mit der Instrumentalmasse und mit der Harmonie, sein Lyrismus und seine Infantilität, seine ‘Trivialität’ und ‘Sentimentalität’ – und darum seine Marschrhythmen und Gassenhauer.“ In dem „‘Lied von der Erde’ und den ‘Kindertotenliedern’ hat sein Judentum, seine asiatische Angehörigkeit restlos gesiegt und damit die Seele über die Materie.“

Nun ja, wenn wir Trivialität und Sentimentalität, immer mit Berl, für „volkspsychologische Momente“ halten wollten, dann müßten wir einerseits konstatieren, daß das Judentum in der Musik universal geworden wäre. Da aber andererseits beide von Berl annoncierten Eigenschaften gerne auch dem Weiblichen zugeordnet werden, hätten wir das jüdische als das weibliche Element identifiziert. Und mit asiatischer Seele haben Mahlers Chinoiserien so wenig zu tun wie die türkische Musikkultur mit dem Beethovenschen Freudenhymnus, der sogenannten Europahymne.

Wer über das Judentum in der Musik nachdenkt, betritt doppelt vermintes Gelände, schließt das doch immer auch ein, über das Deutsche in der Musik nachzudenken. Die Phrase, daß Mahlers Musik universale Geltung erlangt habe, mag als wenig überzeugende Ausflucht gelten. Mahlers Beitrag zur Weltmusik ist, wie alle europäische „Paper-Music“, die bürgerliche zumal, historischer Sonderfall der Musikgeschichte, nirgendwo anders möglich gewesen als im deutschen Kulturraum und nirgendwann anders als um die Wende zum vorigen Jahrhundert. In jedem Fall könnte den Gestus seiner Musik nur verstehen, wer – wie Adorno gefordert und beispielhaft eingelöst hat – „die musikalischen Strukturelemente zum Sprechen brächte, die aufblitzenden Intentionen des Ausdrucks aber technisch lokalisierte“. Das jüdische Element aber, schleicht sich Adorno von dannen, „weicht vor der Identifizierung zurück und bleibt doch dem Ganzen unverlierbar.“

Musikpädagoge Berl hat den dritten Satz aus Mahlers Erster ganz richtig empfunden, den berühmten Trauermarsch, dessen Thema Mahler dem in aller Welt populären Kanon „Frére Jacques“ entlehnt hat und dessen Idee dem parodistischen Bild, wo die Tiere des Waldes ihren Jäger zu Grabe tragen: „Die jüdische Ironie und der jüdische Humor sind immer von einer versteckten Wehmut durchzogen, denn dahinter liegt etwas, das schreien möchte und doch nur lachen darf.“ Es sind Ironie und Humor des existentiellen Außenseiters, des Gejagten, im sicheren Wissen darum, seine Jäger zu überleben, und sei es nach seinem Tode. Seine Zeit würde kommen, hat Mahler gesagt.

Auch wenn kein einziges Stück seiner „Kapellmeistermusik“ auf uns gekommen wäre – keine der neun Symphonien, keines der Lieder, nicht das „Lied von der Erde“ und nicht das rätselhafte Fragment der Zehnten – so war allein schon sein dramatisches Leben buchenswert gewesen, in dem es den Sohn eines Schnapsbrenners und Gastwirts an die Spitze des bedeutendsten Opernhauses und der bedeutendsten Orchester der Welt brachte. Jens Malte Fischer hat das Leben des „Österreichers böhmischer Regionalprägung, deutscher Sprache und jüdischer Herkunft“ auf knapp tausend Seiten nachgezeichnet, von denen keine eine zuviel ist. In einem eigenen Kapitel seines 2003 erschienenen Buches verfolgt er die Problematik des Jüdischen in Mahlers Musik, bejaht seine Existenz, weigert sich aber, ja, warnt davor, es anhand der Partituren konkretisieren zu wollen.

Im Leben erscheint er als Getriebener, als Ahasver

Die Praktiker waren da mutiger. Vertrat Ernest Ansermet 1961 den Standpunkt, daß Mahlers Musik keine jüdische sei, aber „in gängiger Sprache eine Art Jude zu sein“ ausdrücke, so verstand sich für ihren großen Popularisierer Leonard Bernstein von selbst, daß die Musik eines Juden auch jüdische Musik sei, was sonst, und der Seelenverwandte Mahlers suchte dies in seinen Fernseh-Einführungen anhand diverser Stellen, die jüdisch klängen, zu belegen.

„Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“ – so Mahlers zentrale Äußerung zu Natalie Bauer-Lechner im Sommer 1895. Wie jede einzelne Symphonie eine Welt aufbaut, ihr zum Durchbruch verhilft und ihre Zerstörung protokolliert, so baut jede die Welt weiter und um, die von der vorherigen hinterlassen wurde. Nichts war von jeher da, nichts ist neu erfunden. Erscheint Mahler im Leben als Getriebener, als Ahasver, so erscheint er im Schaffen als Demiurg. Um alles, aber auch alles hatte sich der Komponist, Dirigent, Hof­operndirektor, Regisseur zu bekümmern, um das Größte wie das Kleinste. Nicht nur in eigenen Werken nahm er zu jeder neuen Aufführung Retuschen der Instrumentierung vor, sondern auch in den Werken der Komponisten, die er aufführte. Mahlers Theologie sei gnostisch, schreibt Adorno, aber man hört davon lieber, als daß man darüber lesen möchte.

Mit Mahler beginnt die moderne Musik

Mit Lenny Bernsteins erstem Mahler-Zyklus für die Schallplatte, eröffnet im Jahr des 100. Geburtstag 1960, beginnt die Mahler-Renaissance, beginnen aber auch Trivialisierung und Instrumentalisierung. Ihre Tiefpunkte markieren als Mutter allen Mahler-Kitschs die Version des Adagiettos aus der Fünften in Luchino Viscontis „Tod in Venedig“ – die Filmmusik, nicht der Film! –, Zubin Methas Aufführung der zweiten Symphonie, „Auferstehung“, am 13. Oktober 1988 in Masada, die sie für den israelischen Gründungsmythos in Beschlag nahm, oder Lorin Maazels 1989 auf dem Berliner Todesstreifen für den Mythos von der deutschen Wende. Schwer zu unterbieten dürfte die brandneue Mahler-Verwurstung durch den britischen Elektronik-Musiker Matthew Herbert sein, der eine Aufnahme des ersten Satzes der Zehnten unter Giuseppe Sinopoli am Strich entlang „rekomponierte“, ohne auch nur irgend etwas von dem begriffen zu haben, was da musikalisch eigentlich „rekomponiert“ werden könnte. Und das Jubiläumsjahr ist noch nicht zu Ende.

Mahler provoziert Anfänge. Mit ihm endet die Musik des 19. und beginnt die Musik des 20. Jahrhunderts, die wir heute die moderne nennen. Seine Spur zieht sich durch das Werk der zweiten Wiener Klassik und ihrer Erben, das Werk Schostakowitschs und Schnittkes und vieler anderer. Aber dem Jüdischen in Mahlers Musik ist kein Komponist, kein Interpret, kein Deuter so auf den Grund gegangen, wie der New Yorker Jazzmusiker Uri Caine in seinen Projekten „Urlicht“ von 1995 und „Mahler in Toblach“ von 1998. Mit seiner Band führt er Mahlers Musik auf ihr Material zurück und komponiert es neu. In Caines Transformationen klingt auf, was Berl, Adorno, Ansermet und Bernsein gehört haben und alle Antisemiten sowieso, verbeulte Trauermarschmusik der Friedhofs- und Militärkapellen, die unversehens in Klezmer umschlägt, weil sie immer schon Klezmer war, jüdische Totenklage, in welche die Kindertotenlieder übergehen, die aus ihr hervorgegangen waren, synagogale und Städtel-Musik.

Längst ist Mahlers Musik zum Kulturgut herabgesunken, längst haben wir sie uns schöngehört. Nun müssen wir lernen, sie uns fremd zu hören, als ein ergreifendes Zeugnis einer gescheiterten deutsch-jüdischen Symbiose.

Weitere Informationen: Internationale Gustav Mahler Gesellschaft, Wiedner Gürtel 6, 1040 Wien, Telefon/Fax:  00 43 /1 /505-73 30

Foto: Gustav Mahler (1860–1911): Im böhmischen Kalischt geboren, avancierte der Komponist der Spätromantik 1897 zum Ersten Kapellmeister und Direktor der Wiener Hofoper

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