© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

„Auf einer der beiden Seiten mußt du stehen“
„Enthüllungsjournalist“ Fabrizio Gatti begibt sich als Illegaler getarnt auf den Weg nach Europa
Daniel Napiorkowski

Man könnte es auch als Warnung verstehen: „Gatti ist der neue Wallraff des Journalismus“, prangt es auf dem Umschlag. Wer Wallraffs Reportagen kennt, dem wird dessen Hang zum Dramatisieren und Pauschalisieren vertraut sein. Als verdeckt ermittelnder Journalist prägte er jedenfalls den Stil des sogenannten investigativen Journalismus.

Auch Fabrizio Gatti, Chefreporter der italienischen Wochenzeitschrift L’espresso, tarnt sich für seine Recherchen regelmäßig hinter einer fremden Identität und ermittelt in Milieus, von denen es heißt, sie seien nur schwer zugänglich. So gelangen ihm Berichte unter anderem über Drogen- und Mafiaclans, die Abschiebepraxis in der Schweiz sowie Obdachlosenquartiere und Strafvollzugsanstalten in Italien. Und nun ermittelt er als angeblicher Flüchtling, der von Senegal aus illegal nach Europa einwandern möchte.

Die Reise beginnt im äußersten Westen Afrikas in Senegals Hauptstadt Dakar. Von dort aus versucht Gatti das Mittelmeer zu erreichen. Bereits nach wenigen Tagen wird sein Gepäck gestohlen. Bei allem Ärger über die abhanden gekommenen Sachen legt er durchaus Verständnis für den Vorfall an den Tag; den Diebstahl an Europäern deutet er als „vielleicht auch eine Art gesellschaftlicher Umverteilung“. Dies zeugt von der gleichen diffusen Vorstellung von „Gerechtigkeit“, mit der später ein Sergeant den Raubzug seiner korrupten Militärs an einem Flüchtlingstreck in der Wüste begründet: „Wenn sie die Reise bis Europa bezahlen können, heißt das, daß sie reich sind. Deshalb ist es nur gerecht, daß wir auch etwas abbekommen.“ – Zwei Verbrechen, die gleiche Logik.

Gatti findet Kontakt zu einer Schleuserbande, auf einem mit Dutzenden von Menschen beladenen klapprigen Lastwagen zieht er mit einem Flüchtlingsstrom ostwärts durch die Wüsten Tenere und Sahara. In Agadez im Norden Nigers stößt Gatti auf eine Gruppe afrikanischer Flüchtlinge, mit denen er sich anfreundet. Sobald sich Gatti als Italiener zu erkennen gibt, folgt regelmäßig die Frage, ob er bei der Flucht nach Europa behilflich sein könne.

Es ist erschreckend, wie vielen Menschen er begegnet, die bereit sind, alles, was sie haben – und wenn sie nichts haben: ihre sexuelle Mündigkeit oder gar ihr Leben – in die Waagschale zu werfen, um nach Europa zu kommen. Überhaupt strahlt Europa wie der einzige Hoffnungsschimmer am Horizont über der „Titanic Afrika“ (Gatti). Die unglaubliche Beliebtheit von Fußballtrikots europäischer Fußballvereine vor allem bei afrikanischen Jugendlichen ist Sinnbild dieser vagen Hoffnung und prägnantes Beispiel dafür, wie die eigene Identität kollektiv vernachlässigt wird.

Doch auch Gatti flüchtet vor seiner Identität. Mehrmals wird er darauf angesprochen, ob er Christ oder Moslem sei. „Ich bin nur einer von sechs Milliarden Bewohnern der Erde“, antwortet er; seine Religion sei die Freiheit. Damit stößt er nur auf Unverständnis, denn die wenigsten Afrikaner haben den Luxus, sich hinter solchen gutmenschlichen Allgemeinplätzen verstecken zu können:  „Die Welt teilt sich immer mehr auf in Christen und Muslime. In Nigeria ist das schon passiert. Auf einer der beiden Seiten mußt du stehen“, gibt ihm ein Reisegefährte zu verstehen.

Die Odyssee führt ihn durch ein Chaos aus Elend, Gewalt und Korruption. Eine der ersten Erfahrungen Gattis ist die Möglichkeit, mit Dollarscheinen Tore zu öffnen – und seien es nur Grenztore. Das höchst lukrative Geschäft mit der illegalen Einwanderung unterhält einen ganzen Wirtschaftszweig. Eine weitere Erkenntnis ist, daß Euro-Scheine im Wasser widerstandsfähiger sind als Dollar. Das Endziel seiner Reise ist nämlich das berüchtigte Auffanglager für Illegale auf Lampedusa.

Gatti springt von den Klippen ins Meer und läßt sich als vermeintlicher Flüchtling mit ein paar Euro und einigen Konservendosen am Körper an Land treiben. Als kurdischer Flüchtling namens Bilal Ibrahim el Habib, als der er sich nun ausgibt, wird er in das Auffanglager gebracht. Das, was er dort erleidet, ist natürlich Wasser auf die Mühlen seiner selektiven Wahrnehmung, und Vergleiche etwa zum sowjetischen Gulag-System lassen nicht lange auf sich warten.

In jedem Falle ist Lampedusa für die Illegalen ein Scheideweg – wobei kein Weg zu jenem erhofften Ort führt, an dem Milch und Honig aus Schläuchen fließen. Ein Großteil der Einwanderer wird zurück nach Afrika abgeschoben, der andere fristet ein unsicheres Dasein, behaftet mit dem Etikett „illegal“. Doch oftmals rückt nicht nur der ungewisse Status das Bild eines unbeschwerten, konfliktfreien Paradieses zurecht. Zuletzt Anfang des Jahres blickte die Weltöffentlichkeit auf die süditalienische Region Kalabrien, wo die Konflikte zwischen Einheimischen und illegalen Einwanderern seit Jahren derart eskalierten, daß die Presse gar von bürgerkriegsähnlichen Zuständen sprach (JF 17/09).

Ein Weggefährte Gattis, dem der Fluchtversuch nach Europa mißlingt, zieht unter sein gescheitertes Unterfangen eine traurige Bilanz. Er bittet Gott, daß sich seine afrikanischen Brüder „auf dieses oft tödliche Abenteuer nicht mehr einlassen“. Gattis Bilanz endet hingegen mit einer einseitigen Anklage gegen ein angeblich fremdenfeindliches Europa. In seinen Augen ist das Schicksal der illegalen Einwanderer eine Geschichte der versäumten Gelegenheiten; tatsächlich ist es aber nur eine Geschichte der enttäuschten Hoffnungen.

Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Kunstmann Verlag, gebunden, 512 Seiten, 24,90 Euro

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