© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Die Sehnsucht nach Arkadien
Anti-Helden, von der Geschichte beschädigt: Über Hans-Ulrich Treichels neuen Roman „Grunewaldsee“
Thorsten Hinz

Für den geübten Leser von Hans-Ulrich Treichel ist die Hauptfigur seines neuen Romans „Grunewaldsee“ ein alter Bekannter – nicht der Person, aber dem Charakter und der Stellung nach. Paul hat in Berlin sein Lehrerstudium absolviert und wartet darauf, mit dem Referendariat beginnen zu können. Bis dahin muß er sehen, wie er sich über Wasser hält. Im heimatlichen Niedersachsen würde er sofort eine Stelle bekommen, doch weil er einst aus der Provinz aufgebrochen war, die große weite Welt zu erobern, käme die Rückkehr dem Eingeständnis seines Scheiterns gleich.

So muß der nicht mehr ganz junge Mann froh sein, daß die Mutter ihm etwas Geld zusteckt. Er bewohnt eine Kreuzberger Hinterhauswohnung, die nach der fettigen Abluft aus der türkischen Bäckerei im Erdgeschoß riecht. In Spanien, wo er sich als schlechtbezahlter Sprachlehrer durchschlug, hat die schwarzhaarige Maria ihn zu einer andalusischen Affäre verführt. Auf ihr beim Abschied dahingesagtes „Permanecemos juntos!“– „Wir bleiben zusammen!“ – hat Paul die Illusion einer großen Liebe gebaut, die Jahre später, als er Maria tatsächlich wiedersieht, lautlos zerplatzt. Am liebsten geht er am Grunewaldsee spazieren oder auch auf der Pfaueninsel, dem kunstvoll arrangierten Arkadien der preußischen Könige, einem Traum vom Süden in der märkischen Landschaft.

Treichels Figuren wollen Defizite kompensieren

Treichels Bücher ergeben das feine Psychogramm eines bestimmten bundesdeutschen Intellektuellen-Typus. Die Romanfiguren sind Kinder einfacher Leute, die das Bildungs- und Aufstiegsversprechen der siebziger Jahre beim Wort genommen haben und eine akademische Karriere anstreben, meistens in schöngeistigen, leider brotlosen Wissenschaften wie der Kunst- oder Literaturgeschichte. Ihr Studienfach haben sie nicht aus praktischen, sondern aus psychologischen Motiven gewählt, und damit beginnt die Misere. Sie wollen die ästhetischen Defizite, unter denen sie zu Hause gelitten haben, kompensieren und ein bißchen Arkadien in ihr Leben holen.

Doch es fehlt ihnen an Durchsetzungskraft, am letzten Quentchen Talent, an Realismus, kommunikativer Raffinesse und an sozialem Kapital, das den Sprößlingen besserer Elternhäuser auf dem Weg nach oben mitgegeben wird. So bleiben sie, obwohl ausgestattet mit allen Freiheiten, Stipendien, Auslandssemestern, in ihrer Herkunft und ihren Komplexen gefangen. Ihr krampfhaftes Bemühen um Weltläufigkeit und Ebenbürtigkeit mißglückt und läßt sie nur um so provinzieller erscheinen.

Paul kommt in seiner Zeit als Deutschlehrer an der Universität Malaga bei einem englischen Ehepaar unter. Andrew und Janet sind ebenfalls Sprachlehrer, aber viel geschäftstüchtiger als er und in der Stadt bestens vernetzt. Weil sein Zimmer kein Fenster hat, erledigt Paul die Unterrichtsvorbereitungen in der Küche. Seine Vermieter entschuldigen sich beim Betreten der Küche für die Störung und bieten ihm regelmäßig von ihrem Kaffee oder Tee an, was Paul mit souveräner Gelassenheit registriert. Erst durch Maria erfährt er, daß es dringliche, in die sprichwörtliche britische Höflichkeit verkleidete Aufforderungen sind, sich endlich eine andere Bleibe zu suchen und ihr Privatleben nicht länger zu stören. Nach seinem Auszug wären Andrew und Janet gern bereit, weiter freundschaftlichen Kontakt mit ihm zu pflegen, aber dazu ist Paul, der sich kompromittiert und vernichtet fühlt, nicht mehr fähig. Ihr verunsichertes Selbst, gesellschaftliches Mißgeschick und berufliches Scheitern bilden für Treichels Figuren den Dreiklang des Lebens, der sie auf dem Weg ins akademische Prekariat begleitet. Ihre Stimmung entspricht dem „Tristan-Akkord“, der einem früheren Roman den Titel gab: „sehnsüchtig-traurig, irgendwie unerlöst“.

Das Schicksal dieser Sehnsüchtig-Traurigen und Unerlösten ist es, nie erwachsen und zu Familienvätern zu werden. Treichels schwache Helden leben stets in Berlin, in West-Berlin – was über den Mauerfall hinaus so bleibt –, wo Wehrdienstverweigerer, Lebensflüchtlinge und -künstler aus der gesamten Bundesrepublik ihr Biotop finden und subventioniert werden, damit sie das Bild einer quirligen Metropole aufrechterhalten. Das Leben in der geteilten Stadt gibt diesen Königen ohne Land die Gelegenheit, ihre bescheidene Existenz in einen politischen und historischen Kontext zu stellen und mit Bedeutung aufzuladen. Wenn die arbeitslosen Designer, Medienleute, Kunstexperten, Schauspieler sich auf dem Sozialamt treffen, geben sie sich als Vielbeschäftigte, die eben nur mal aus New York, London oder Mailand zum unvermeidlichen Höflichkeitsbesuch eingeflogen sind.

Tief im Innern aber lauern Lebensangst und das Wissen um die eigene Schwäche. Paul entschließt sich immerhin, beim türkischen Bäcker Beschwerde über das gesetzwidrige, viel zu kurze Abluftrohr im Hinterhof zu führen, worauf der kräftige Mann ihn mit großer Geste an sich drückt und zum Sonntagskaffee einlädt. Paul kapituliert – aus Mitleid mit dem Türken, der um seinen Lebensunterhalt und den unsicheren Aufenthaltsstatus seiner Familie fürchtet, redet er sich ein. In Wahrheit aber fühlt er sich eingeschüchtert von dessen überwältigender körperlicher Präsenz. Vor der orientalischen Musik, die durch die Wände dringt, flieht er ins Freie und in die Selbstsuggestion, daß der Lärm mittelbar seiner Gesundheit zuträglich sei, also eine – wie man mittlerweile sagt – Bereicherung seines Lebens darstellt.

Die Lebensschwäche der Treichelschen Figuren ist die Summe aus Familiengeschichten, die von Krieg, Vertreibung, von Verlusterfahrungen geprägt sind. Exemplarisch dafür steht die Novelle „Der Verlorene“ über eine ostpreußische Vertriebenenfamilie, deren kleiner ältester Sohn bei der Flucht verlorengegangen ist. Die Schuldgefühle, der Schmerz über die Demütigung und Entwurzelung finden keinen anderen Ausweg als den in eine rastlose Tätigkeit, die niemals Ausgleich in Genuß und Entspannung erfährt. Familienausflüge geraten zu quälenden Schuld- und Schamprozessionen. Treichels Vaterfiguren sind gebrochene Männer, die ihren Söhnen keine Vorbildrolle liefern können, so daß diese sich vaterlos fühlen.

Die Bücher sind autobiographisch grundiert. In Essays und Interviews hat der 1952 geborene Treichel eingeräumt, selber durch die Traumata seiner überforderten Eltern einen „Kindheitsschaden“ davongetragen zu haben. Ihr Heimatverlust prägte ihn bereits dadurch, daß es keine alten Familientruhen oder Dachböden gab, wo man kramen konnte, um die Geschichte der Vorfahren zu erkunden und sich als Teil eines „Ereigniszusammenhangs, als Mensch innerhalb einer Chronologie (zu begreifen), und nicht bloß als ein Mensch am Ort“. Diese „gänzliche Enthistorisierung und Entprivatisierung der persönlichen Lebenswelt“ als Folge von Krieg und Kriegstrauma sei repräsentativ „für die Psyche des Gesamtkollektivs“.

Von historischer Leere umgeben und umzingelt

Stellvertretend verweist Treichel auf den Zusammenhang des „architektonischen Funktionalismus der sechziger Jahre mit der historischen Leere, von der ich mich als Kind und Heranwachsender umgeben und geradezu umzingelt fühlte“. Die ästhetischen Defizite, an denen Treichels Figuren in ihrem Elternhaus leiden, sind familien- und lebensgeschichtlich begründet und wurzeln letztlich in Katastrophen geschichtlichen Ausmaßes.

Wenigstens richten diese introvertierten Anti-Helden keinen Schaden an. Unter den Vertretern des besagten Intellektuellen-Typus sind sie die klügeren und sensibleren. Die anderen, die durch ihr Herkommen emotional ähnlich konditioniert, aber weniger zart besaitet, dafür energisch und erfolgsorientiert sind,  interessieren sich nicht für Proust oder Caravaggio. Sie werden Politiker, So­zialarbeiter, Pädagogen, Ausländer- und Gender-Beauftragte, Faschismus-Exorzisten, Journalisten. Sie werden bösartig und kehren ihre Regression als Aggression nach außen, wo Treichels Figuren melancholisch Verzicht üben. Dadurch werden sie politisch folgenreich. Treichels Bücher führen in die Tiefenpsychologie dieses Landes. Sie verdienen es, stets ein zweites Mal, gleichsam seitenverkehrt, gelesen zu werden.

Hans--Ulrich Treichel: Grunewaldsee. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010, gebunden, 237 Seiten, 19,80 Euro.

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