© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Im Giftschrank verschlossen
Staatsform der Krisenlosigkeit: Vor fünfzig Jahren erschien Winfried Martinis Buch „Freiheit auf Abruf“
Ansgar Lange

Der am 4. Juni 1905 in Hannover geborene und am 23. Dezember 1991 in Bad Endorf verstorbene Publizist und Rundfunkkommentator Winfried Martini dürfte heute nur noch wenigen Zeitgenossen bekannt sein. Großes Aufsehen erlangte Martini mit seinen pessimistisch gestimmten Büchern „Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens“ von 1954 und „Freiheit auf Abruf. Die Lebenserwartungen der Bundesrepublik“ aus dem Jahr 1960.

Das von Kiepenheuer & Witsch herausgebrachte Werk beginnt mit einem Paukenschlag: „Seitdem vor wenigen Jahren mein Buch ‘Das Ende aller Sicherheit’ herausgekommen ist, gilt es ausgemacht, daß ich kein Demokrat sei. Darüber ließe sich gewiß reden. Doch man meint dergleichen nicht im Sinne eines objektiven Befundes, sondern als Diffamierung, so daß wohlwollende Rezensenten häufig das Bedürfnis verspürten, mich gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen und zu versichern, ich sei sogar ein ‘guter Demokrat’.“ Der Autor machte deutlich, daß ihn die Fragestellung nicht besonders interessierte. Er betonte allerdings, daß er weit davon entfernt sei, „die innerweltlich-eschatologische Vorstellung der meisten Demokraten zu teilen, die Demokratie sei der Endzustand der universalen Verfassungsgeschichte“.

Bei seiner Einschätzung der Lebenserwartung der Bundesrepublik interessierte den an Carl Schmitt geschulten Denker, ob dieses Staatswesen kämpfen könne – nicht, ob es demokratisch sei. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete Martini im Jahr 1975 anläßlich seines 70. Geburtstags als „intellektuellen Nonkonformisten der äußersten Rechten“. Diese Einschätzung ist mit Vorsicht zu genießen, denn in den 1950er und 1960er Jahren war der politische Schriftsteller, der für angesehene Blätter wie Rheinischer Merkur, Christ und Welt, Die Welt, Welt am Sonntag oder Münchner Merkur – gelegentlich sogar für den Spiegel – zur Feder griff oder für den Bayerischen Rundfunk Kommentare sprach, ein anerkannter politischer Publizist mit prononciert konservativem Profil, gewiß aber kein „rechter“ Außenseiter.

Der Demokratie billigte er instrumentalen Charakter zu

Auch sein biographischer Hintergrund läßt Vertreter der politischen Korrektheit ins Leere laufen. Seit 1933 war Martini als Journalist tätig. Während er an seiner Dissertation (Öffentliches Recht) über das Thema „Der Arierparagraph“ schrieb, lud ihn die Jewish Agency for Palestine, damals die höchste zionistische Behörde, 1935 nach Palästina ein. Kurz vor seinem Tod sagte Martini, daß „aus der Dissertation glücklicherweise nichts wurde: Ich dürfte heute als ‘Kommentator des Arierparagraphen’ den Mund nicht aufmachen, außer ich wäre der SPD beigetreten, die als einzige Partei den lobenswerten Mut hat, ihren Mitgliedern volle Absolution von ihrer Vergangenheit zu gewähren.“

Selbst das linke Nachrichtenmagazin Der Spiegel hielt Martini im Rahmen einer Besprechung von „Freiheit auf Abruf“ zugute, er habe zu Goebbels’ Zeiten Posten bevorzugt, die schon geographisch vom Berliner Prop-Ministerium weit entfernt lagen. In der Zeit von 1935 bis 1937 berichtete Martini für die Deutsche Allgemeine Zeitung als Nahost-Korrespondent aus Jerusalem. Ohne ein Philosemit zu sein, hatte der des Hebräischen und Jiddischen mächtige Martini schon in den zwanziger Jahren im ostjüdischen orthodoxen Milieu in Berlin verkehrt und Kontakte zu jüdischen Personen und Organisationen unterhalten.

Nach seiner Korrespondententätigkeit arbeitete Martini in der Rüstungsindustrie und im Auswärtigen Amt (1940), bevor er zwischen 1941 und 1943 über dreißig deutsche Zeitungen (Vereinigte Auslands-Pressedienste) in Stockholm vertrat. Die in seiner Berichterstattung zum Ausdruck kommende politische Gesinnung brachte ihm im Juli 1943 ein Berufsverbot ein. Im September noch zur Wehrmacht eingezogen, geriet Martini bei Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft.

In seinem Erstling „Das Ende aller Sicherheit“ hatte Martini bereits die auch heute noch gültige Frage nach der Krisenanfälligkeit der Demokratie gestellt. „Freiheit“ galt ihm als oberster Wert, während er der Demokratie nur „instrumentalen Charakter“ zubilligte. Martini artikulierte in dem brillant geschriebenen Buch seine Zweifel, ob die westliche Welt gegenüber dem kommunistischen Osten im Ernstfall genügend Selbstbehauptungswillen aufbringen würde. Sein provokativer Verweis auf das vermeintliche Vorbild des Modells Salazar führte dazu, daß seine „nur vorsichtig angedeuteten Ideen von einer beunruhigten Öffentlichkeit tief im Giftschrank verschlossen wurden“ (Hans-Peter Schwarz).

Martinis zweiter konservativer Klassiker „Freiheit auf Abruf“ plädierte für einen sogenannten „konstruktiven Pessimismus“. Der Verfasser sorgte sich darum, daß der Westen die Freiheit gegenüber dem Osten nicht offensiv verteidigen werde. Martinis durchgängige These lautet, der Osten habe eine Idee und sei offensiv eingestellt; der Westen habe viele Ideen und befinde sich in der Defensive.

Als echter Konservativer beklagte Martini einen Primat der Ökonomie in der Bundesrepublik, „der in unserer Zeit ungleich gefährlicher ist als der Primat des Militärischen“. Diese Kritik machte der Autor insbesondere an Ludwig Erhard fest, dem jeder innere Zugang zum Wesen des Politischen fehle. Doch auch insgesamt sei es um den gesamten Westen inklusive der Vereinigten Staaten nicht gut bestellt, denn er atme bereits in tiefen Zügen das süße Opium von der „friedlichen Koexistenz“. Die Schwäche, die der Westen in den dreißiger Jahren Hitler gegenüber gezeigt habe, zeige er nun – in den fünfziger Jahren – Moskau gegenüber. Schuld daran seien die „Entspannungsgymnastiker“.

Adenauer ist in den Augen Martinis ein Bollwerk gegen die Tendenzen zur Verweichlichung des „Spielstaats“ Bundesrepublik, der für den Ernstfall weder geschaffen noch gewappnet sei. „Und wehe dem Staat, dessen Führer unersetzlich ist“, so Martini voller Sorge, der die Kumpanei mit dem SED-Staat kritisierte, die aus der Verachtung des Adenauer-Regimes resultierte: „Eine beträchtliche Rolle schließlich spielt die intensive Feindschaft unserer Linken gegen das ‘Adenauer-Regime’, wobei es in diesem Zusammenhang gleichgültig ist; in diesem Zusammenhang ist allein die Tatsache entscheidend, daß es so ist und daß die Intensität dieser Feindschaft zumal bei den mehr emotional bestimmten Köpfen nur allzu leicht ein Klima schafft, das irgendwelche Formen der Kooperation mit dem sowjetdeutschen SED-Staat psychologisch ermöglicht, das es also erleichtert, die tiefen ideologischen Unterschiede zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus an die zweite Stelle zu setzen, zu überbrücken oder gar zu verdrängen; solche Formen der Kooperation – und bestehen sie auch nur in der Annahme von Einladungen in die SBZ – ergeben sich um so eher, als sie die Weihe von ‘gesamtdeutschen’ Akten erhalten.“

Martinis Pessimismus sollte aufrüttelnd wirken

Es läßt sich kritisch anmerken, daß Martini die Geschlossenheit und die Kraft des Ostens unterschätzt und die Ausstrahlungskraft der westlichen Demokratien und des westlich-liberalen Marktmodells unterschätzt hat. Zudem macht Martini nicht hinreichend deutlich, welches andere Modell er denn anstelle der seiner Meinung nach defizitären Demokratie favorisiert. Trotzdem ist „Freiheit auf Abruf“ das sehr anregende Buch eines Autors mit einem Hang zu autoritären Modellen (Todesstrafe, Wehrhaftigkeit, starke Exekutive, Mythen, Vitalhabitus als Stichworte), dessen Pessimismus nicht defätistisch wirken, sondern aufrütteln soll.

Viele seiner damaligen Analysen sind überdies auch heute noch bedenkenswert. Recht hatte Martini beispielsweise mit seiner Kritik an der Entwicklung der Bundesrepublik zum Sozial- und „Verteilerstaat“. Der Staat – so der scharfzüngige Autor – habe sich zu einem „Sozialkuchen“ reduziert.

Seine Befürchtungen haben sich nicht bestätigt

Zum Glück haben sich die Befürchtungen der konservativen Kassandra Martini nicht bestätigt. Der „Spielstaat“ Bundesrepublik hat die DDR überlebt, genauso wie der Westen einen (vorläufigen) Sieg über den Osten erzielt hat. Auch Winfried Martini hat immer wieder betont, daß die Teilung Deutschlands besser sei als eine „rote Einheit“, denn die Nation beziehungsweise deren Einheit darf nicht über den Staat gestellt werden.

Ob die durch die 68er-Bewegung und den Linksterrorismus geschwächte Bundesrepublik einen wirklichen Ernstfall bestanden hätte, vermag man heute nicht mit Sicherheit zu beantworten. Materieller Wohlstand hat viel zur Beruhigung beigetragen. Martini zufolge mangelte es in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre jedenfalls an der Bereitschaft, die Demokratie nach außen und nach innen zu verteidigen und dafür jedes persönliche Opfer zu bringen: „Mehr als jede andere Staatsform ist die Demokratie auf die Stabilität und Ausgeglichenheit der innern und äußeren Verhältnisse angewiesen. (…) Man kann daher die Formel wagen, die Demokratie sei die ‘Staatsform der Krisenlosigkeit’ oder auch die ‘Staatsform des Optimismus’: denn Krisenlosigkeit wie Optimismus bilden ihre politische, gesellschaftliche, ökonomische und psychologische Voraussetzung.“

Martini bot im Jahre 1960 mit seinem Klassiker „Freiheit auf Abruf“ eine düstere Analyse, doch in positiver Absicht. Er sprach sich für eine Notstandsgesetzgebung, ein bundesrepublikanisches Staatsbewußtsein und die Abschaffung des Provisoriums- und Übergangscharakters der Bundesrepublik aus, weil er diesen Staat stärken und nicht schwächen wollte.

Sämtliche Bücher von Winfried Martini sind nur noch antiquarisch zu beziehen.

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