© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Der Skandal als Politisches Instrument
Strategie der Zersetzung
von Klaus Motschmann

Zu den wenig beachteten Ereignissen im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme in Osteuropa gehört die Tatsache, daß bereits wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer am 3. Januar 1990 am Sowjetischen Ehrenmal in Ost-Berlin unter der Losung „Unser Land braucht eine Einheitsfront gegen Rechts“ eine Großkundgebung der zur PDS gewendeten SED stattfand, die von zirka 250.000 Berlinern besucht worden ist.

Anlaß für diese Großdemonstration waren Hakenkreuzschmierereien an diesem Ehrenmal, von denen niemand zu sagen wußte, wer sie tatsächlich angebracht hatte. Der eigentliche Grund aber war die Demonstration der Bereitschaft zur Fortsetzung des Kampfes gegen den „Faschismus“, der unter den gründlich veränderten politischen Verhältnissen neu formiert werden mußte, nachdem der „antifaschistische Schutzwall“ diese Funktion nicht mehr gewährleisten konnte.

Eine zuverlässige Orientierung für den Fall des Zusammenbruchs der DDR bot ein Strategiepapier der Stasi aus dem Jahr 1986. Es handelte sich gewissermaßen um eine Art Überlebensordnung und damit um ein „Vermächtnis“ der SED. In diesem Papier heißt es unter anderem, daß die alte Strategie mit neuen Taktiken zu verfolgen sei. Diese zielten auf das Prinzip der „Zersetzung“ ab. Dazu heißt es: „Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind:

l Systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufs, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben;

l Systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen;

l Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; Erzeugung von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen; zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen“ (Der Morgen vom 27. Juni 1990).

Auch die notwendigen personellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Strategie in die politische und gesellschaftliche Praxis wurden bedacht. Zu diesem Zweck wurden zirka 2.000 qualifizierte Mitarbeiter der Stasi mit einer zweiten Identität versehen und in einflußreiche Stellungen in allen Bereichen der Gesellschaft und Politik plaziert, sofern diese nicht im Zuge des „Langen Marsches durch die Institutionen“ von Aktivisten der 68er bereits besetzt waren. Ihre Aufgabe war (und ist es noch immer), den Feind nicht durch offene Konfrontation oder gar mit Gewalt zu besiegen, sondern durch die „höchste Form der Kriegführung“: durch einen Prozeß der systematischen Zersetzung, also auf „friedlichem Weg“ den Feind wehrlos zu machen. Nur beiläufig sei daran erinnert, daß es sich dabei um ein Grunddogma maßgebender Militärtheoretiker und Philosophen handelt, so zum Beispiel des Chinesen Sunzi zirka 500 v. Chr. Die wichtigsten Aussagen dieses Buches sind offensichtlich direkt in das Strategiepapier der Stasi eingeflossen.

In dieser Konzeption spielt der Skandal eine wichtige Rolle. Einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Skandals vermittelt die Etymologie dieses Begriffes. Skandalon kommt aus dem Altgriechischen und bezeichnet das „Spannhölzchen“ in einer Tierfalle, im weiteren Sinn – pars pro toto – dann auch die Falle selbst. In diesem Sinn bezeichnet es auch heute noch den Abzug an einem Gewehr.

Skandale sind in der Regel nicht passive Reaktion auf äußere Ereignisse wie eine Revolution, ein Attentat oder eine Verletzung von Sitte und Tradition. Sie sind allenfalls der Anlaß. Ein Skandal wird oft über Jahre aktiv vorbereitet, ja regelrecht inszeniert.

Erst im Laufe der Geschichte hat sich dieser Begriff unter dem Einfluß des christlichen Verständnisses erheblich ausgeweitet und bezeichnet teils direkt, teils synonym alles, was als „Ärgernis“ verstanden wird, weil es zum „Abfall vom rechten Glauben“ verführt.

Die sehr unterschiedlichen Motivationen und widersprüchlichen Interpretationen sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß als Ergebnis einer vergleichenden Analyse geschichtlicher Skandale ein beachtliches Maß an Gemeinsamkeiten der Strategie und Taktik eines Skandals erkennbar sind. Dazu gehört zunächst die Feststellung, daß Skandale in der Regel nicht als passive Reaktion auf bestimmte äußere Ereignisse verstanden werden sollten, also auf eine Revolution, auf ein Attentat oder auf eine schwere Verletzung von Sitte und Tradition. Sie sind allenfalls der Anlaß, aber nicht der eigentliche Grund für einen Skandal. Der Skandal wird vielmehr sorgfältig, oft genug über Jahre hinweg aktiv vorbereitet, ja regelrecht inszeniert, häufig genug unter Rückgriff auf lange zurückliegende Ereignisse, an die sich kaum noch jemand exakt erinnern kann.

Im Gegenteil, und das ist eine weitere Gemeinsamkeit in der „Dramaturgie“ von Skandalen: Sie zielen nicht, wie in einem ordentlichen Gerichtsverfahren, auf Klärung konkreter Verletzungen der jeweiligen Rechtsordnung ab, also eines Mordes, einer Erpressung, einer Bestechung, einer Gotteslästerung oder dergleichen, sondern auf die Beseitigung eines Gegners. Statt der gegnerischen Position mit nachvollziehbaren Beweisen unter Abwägung aller Argumente pro und contra und mit Rücksicht auf die Logik zu begegnen, soll die Persönlichkeit des Gegners in ihrer Gesamtheit diffamiert und diskreditiert werden. Eine wesentliche Voraussetzung für die Inszenierung eines Skandals sind „Argumente“, die auf die Emotionen abzielen, um eine breite Masse zu mobilisieren. Ein mögliches geordnetes Gerichtsverfahren dient in der Regel allenfalls als Tribüne für die erfolgreiche Verbreitung einer sogenannten „actio popularis“.

Ein Musterbeispiel zum Verständnis dieser Strategie und Taktik hat uns der römische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) in seinen sieben „Reden gegen Verres“ hinterlassen. Sie veranschaulichen den Kampf, den Cicero gegen den verbrecherischen römischen Statthalter in Sizilien führte, nachdem die Möglichkeit eines ordentlichen Gerichtsverfahrens aufgrund der inneren Spannungen in Rom nicht mehr gegeben war. Es blieb deshalb nur der Ausweg, ein Gerichtsverfahren durch einen Skandal zu erzwingen. Dieser von Cicero entfachte Skandal bestätigt so ziemlich alle Rechtsbrüche und Untaten, unter denen die Sizilianer zu leiden hatten und die bis heute eine wichtige Rolle in der Inszenierung eines Skandals spielen:

Erpressungen namhafter Bürger;

Bestechungen von Richtern und Politikern;

Verschwendung von Steuergeldern und finanzielle Unregelmäßigkeiten;

Luxuriöses und wüstes Leben mit Freunden und Gönnern;

Sexuelle Ausschweifungen, vielfach mit Ehefrauen und Töchtern der Gastgeber;

Mißachtung religiöser Traditionen.

Der Skandal war deshalb erfolgreich, weil es Cicero gelungen war, in einer „actio popularis“ Emotionen der breiten Mehrheit anzusprechen und auf rationale akademische Begründungen der Anklage zu verzichten.

Nun ist die gesellschaftliche und politische Ordnung des Römischen Reiches nicht allein durch korrupte Politiker à la Verres herausgefordert worden, sondern auch – und sehr viel nachhaltiger – durch die Ausbreitung des Christentums. Es war nicht nur den Römern, sondern auch den Heiden, den Griechen und vor allem den Juden ein Skandalon (1. Kor. 1, 23), weil es die religiösen Traditionen und Sitten radikal in Frage stellte.

In dieser Auseinandersetzung einer damals schon multikulturellen Gesellschaft bildeten sich Spannungen, die von allen möglichen Verführern in skandalöser Weise ausgenutzt wurden. Der Skandal entwickelte sich mehr und mehr zu einer erfolgreichen „Waffe der Verführung“. Deshalb wurden Skandale in der christlichen Theologie scharf verurteilt, insbesondere natürlich die Skàndalosi – jene, die einen Skandal verursachen: „Es ist unmöglich, daß keine Skandale kommen; aber wehe dem, durch welchen sie kommen! Es wäre ihm besser, daß man ihm einen Mühlstein um den Hals hängte und würfe ihn ins Meer, denn daß er einen dieser Kleinen ärgert.“ (Luk. 17,1-2)

Die Fähigkeit der Geisterscheidung (griech: diakrisis im Sinn von Unterscheidung, Streit, Trennung) gehörte deshalb zu den über die Jahrhunderte hinweg wichtigsten Aufgaben der christlichen Kirchen in den Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Zeitgeistströmungen. Davon kann heute – im „Kampf gegen Rechts“ – nur noch sehr bedingt die Rede sein. Das Ergebnis ist eine diabolische Verwirrung einstmals verbindlicher Positionen und Begriffe, eine gute Voraussetzung für die Planung und Durchführung aller möglichen Skandale. Man ist in der Behandlung dieses Themas nicht auf Vermutungen und politische Zweckinterpretationen angewiesen. Einen aufschlußreichen Einblick in diese Problematik vermittelt die Dokumentation von John Barron (Pseudonym eines Überläufers des KGB): „Arbeit und Organisation des sowjetischen Geheimdienstes in Ost und West“, Bern 1974.

Dieses Buch besitzt noch immer einen hohen Aussagewert zum Verständnis der zahlreichen Skandale, mit denen das politische System der Bundesrepublik im Sinn der kommunistischen Ideologie und der 68er Kulturrevolution bekämpft worden ist – und die bis heute unmittelbar nachwirken.

Die „Dramaturgie“ von Skandalen zielt nicht auf die Klärung konkreter Verletzungen einer Rechtsordnung ab, sondern auf die Beseitigung eines Gegners. Dessen Persönlichkeit soll im Rahmen der Inszenierung in ihrer Gesamtheit diffamiert und diskreditiert werden.

Sie veranschaulichen die Arbeitsweise des KGB mit einer akribischen Darstellung der Strategie und Taktik der kommunistischen Weltbewegung. Dazu ein Musterbeispiel: Am Heiligen Abend 1959 wurden in Köln die Synagoge und eine jüdische Gedenkstätte mit Hakenkreuzen und antijüdischen Parolen beschmiert. Diese Aktion löste den beabsichtigten Skandal aus und erreichte damit die gewünschte Wirkung – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Innerhalb von wenigen Tagen wurden in zirka zwanzig deutschen und zahlreichen ausländischen Städten jüdische Einrichtungen geschändet, so in London, Oslo, Wien, Paris, Parma, Glasgow, Kopenhagen, Stockholm, Mailand, Antwerpen, New York, Athen, Melbourne, Manchester – insgesamt 833 Anschläge.

Nach übereinstimmender Meinung in den Stellungnahmen in Politik und Publizistik sei dies ein Beweis für das Wiederaufleben des Nationalsozialismus und die von Deutschland erneut ausgehende Bedrohung des Weltfriedens. Die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen seien unfähig, den Nationalsozialismus mitsamt seinen Wurzeln auszurotten, wie es immer wieder in Absichtserklärungen beteuert wurde.

Es bedarf keiner Einzelnachweise, daß sich das politische Meinungsklima in Westeuropa schlagartig abkühlte. Britische Kaufleute stornierten Aufträge in Deutschland. Deutsche Diplomaten wurden geschnitten, namhafte Politiker und Publizisten dachten laut darüber nach, ob Deutschland ein zuverlässiger Partner in der Nato und den Europäischen Gemeinschaften sein könne. Im Zuge der Strafverfolgungen wurden allein in Deutschland 233 Personen festgenommen, von denen jedoch nur wenige als Urheber dieses Skandals in Frage kamen, was wiederum als Beweis für das Unvermögen der deutschen Regierung und Justiz zu einem energischen Vorgehen be- und verurteilt wurde.

So plötzlich und unerwartet, wie dieser Skandal ausgelöst wurde, so plötzlich wurde er Mitte Februar abgebrochen, nachdem der strategische Zweck dieser Aktion erreicht worden war. In einer überzeugenden „actio popularis“ wurden die Maßstäbe für den gemeinsamen „Kampf gegen Rechts“ gesetzt, die bis heute für die europäische Linke trotz aller taktischen Wendungen maßgebend bleiben, trotz aller Erfahrungen mit dem Verlauf von allen möglichen Skandalen – und dies nach 250 Jahren Aufklärung.

Von dem „Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen“, ist immer weniger zu spüren, dagegen immer mehr von der Mißachtung dieses Grundsatzes der Aufklärung. Es geht eben nicht um die Wahrheit, sondern um den systematischen Mißbrauch der Wahrheit. Dazu der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) in seiner „Ethik“: „Es ist der Zyniker, der unter dem Anspruch, überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise ‘die Wahrheit zu sagen’, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt. Indem er sich den Nimbus des Wahrheitsfanatikers gibt, der auf menschliche Schwachheiten keine Rücksicht nehmen kann, zerstört er die lebendige Wahrheit zwischen den Menschen. Er verletzt die Scham, entheiligt das Geheimnis, bricht das Vertrauen, verrät die Gemeinschaft, in der er lebt, und lächelt hochmütig über das Trümmerfeld, das er angerichtet hat.“

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin. Er ist langjähriger Kolumnist der JUNGEN FREIHEIT. Auf dem Forum schrieb er zuletzt zum 125. Todestag von Karl Marx („Weder Entartung noch Entgleisung“, JF 12/08).

Foto: Hakenkreuze an der Synagoge in Köln 1959; Großdemonstration vor dem geschändeten sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow 1990: In einer überzeugenden „actio popularis“ wurden die Maßstäbe für den gemeinsamen „Kampf gegen Rechts“ gesetzt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen