© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Bilanz der verpaßten Chancen
Ausländerpolitik: Der Integrationsbericht der Bundesregierung deckt trotz zahlreicher Beschwörungsformeln massive Versäumnisse auf
Sverre Schacht

Der Integrationsbericht der Bundesregierung läßt Brisantes erahnen: Hilferufe aus dem Bildungswesen, die Integration hemmende Bevölkerungstrends, Kriminalität, Fehlförderung und Ghettobildung. All das kommt aber nicht als Krise, sondern als „Chance“ oder vermeintlich verschrobene Sicht der Mehrheitsbevölkerung vor.

Das in der vergangenen Woche veröffentlichte, 565 Seiten starke Werk der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU) versteht sich als Gesamtschau der Lebenssituation von Ausländern in Deutschland, ist aber doch mehr eine Zahlensammlung, die gängige Sichtweisen linker Politik stärkt. Gerade bei den Themen Bildung und Kriminalität treten die Schwächen des Berichts hervor. Er ist eine Bilanz verpaßter Chancen im Sinne eines fairen Gleichgewichts zwischen Fördern und Fordern. Von „Großbaustellen“ der Integration und fehlender Chancengleichheit spricht Maria Böhmer, wenn sie die Bilanz des bisher achten Berichts zieht: Viel Arbeit für Deutsche steht bevor, viel „Bürgerengagement“ und „Kampf gegen Rechts“.

Dabei steckt der Teufel im Detail: in den Statistiken, deren Sprengkraft das Papier kaum reflektiert. Floskeln wie „Vielfalt als Chance sehen“ oder  „Vielfalt tut gut“ geben dem Bericht den Zauber einer Beschwörungsformel. Das Signal heißt: Komme, was wolle, wir Politiker sind auf dem einzig richtigen Weg. Schon die Wohnsituation der Ausländer ähnelt aus diesem Blickwinkel der Rassentrennung – von „Segregation“ und der „Konzentration sozial schwieriger und benachteiligender Lebenssituationen“ ist die Rede, kein Wort von selbstgewählten Ghettos. Warum Bemühungen um gemischte Quartiere „begrenzt realisierbar“ seien und die Bildung eigner Quartiere angeblich „nicht zu stärkerer Orientierung an Herkunftskulturen und geringeren Kontakten zu Einheimischen führt“, klärt der Bericht nicht. Natürlich habe die Wohnsituation negative Auswirkungen auf Schulkinder – „bestehende Segregation führt zu gravierender Chancenungleichheit“. So müht sich das Werk, Regierungsprogramme wie „Lernen vor Ort“ anzupreisen. Großstädte wie München, wo der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund bei 50 Prozent liegt – andernorts bei 75 Prozent –, widersprechen jedoch den Verheißungen.

„Die Herkunft entscheidet über den Schulabschluß“

Individuelle Förderung ja, Förderschulen nein, und das letzte Kindergartenjahr kostenlos, damit Migrantenkinder wenigstens mit ausreichend Deutsch in die Schule starten: Was Böhmer als Fortschritt preist, werten manche Experten als Rückschritt. Allein der formale Besuch höherer Schulen gilt schon als Kriterium für gelungene Bildungsintegration. Insgesamt zeichnet sich in dem Bericht der Abschied vom Leistungsgedanken ab – Bayern etwa kommt schlecht weg, weil zu wenig Zuwandererkinder höhere Schulen besuchen.

Vergleichende Analysen länderbedingter Unterschiede sucht man vergebens. Daß Jugendliche aus Einwandererfamilien zu 63 Prozent aus einem schmalen Feld von 20 Ausbildungsberufen wählen, wird den Firmen der nichtgewählten Berufe angelastet. Dabei läßt sich die ständig unterstellte Diskriminierung durch Deutsche kaum nachweisen. „Test-Türken“ schnitten bei telefonischer Wohnungssuche unter Vermietern kaum schlechter ab als Deutsche, eine Diskriminierung konnte nicht nachgewiesen werden. Wie dagegen die Integration an Großstadtschulen vorankommen soll, klären die Verantwortlichen nicht. Gerade bei Bildung und Kriminalität neigt das Werk dazu, nur zu sehen, was politisch korrekt ist – „positive Veränderungen betreffen eine erfolgreichere Bildungsbeteiligung und damit verknüpft die Verringerung von Schulabbrüchen“. Es folgt unmittelbar der Generalvorwurf ans deutsche Schulsystem: „Weiterhin gelingt es dem schulischen Bildungssystem allerdings nur unzureichend, mit sozialer und ethnischer Vielfalt umzugehen.“ „Binnendifferenzierung“ – die Frage, warum Iraner eher aufs Gymnasium, Türken eher auf die Hauptschule gehen – bleibt aus, Integration ein Gebiet, an dem sich verschiedenste Instanzen ausprobieren dürfen: Bund, Länder und EU. Kompetenz-Querelen mit dem Bund, der auf die ländergesteuerte Bildung kaum Einfluß hat, übergeht der Bericht mit Absichtserklärungen. Immerhin soll künftig die „Bildungsaspiration“, der Anspruch der Ausländer an sich selbst, erfaßt werden.

Die ehrgeizigen Ziele – so soll das Bildungsniveau von Schülern aus Zuwandererfamilien 2012 dem allgemeinen Schnitt entsprechen – werden wohl nur durch Niveausenkung zu erreichen sein. Der Bericht reagiert hilflos auf die Tatsache, daß die Quote der Schulabbrecher aus Einwandererfamilien mittlerweile bei 13,3 Prozent liegt (bei Deutschen: 7 Prozent): „Zu oft entscheidet Herkunft heute noch über den Schulabschluß und damit über die Zukunft. Das führt in nahezu allen Stufen des Schulsystems zu Benachteiligungen.“ Die Wirklichkeit dringt nur häppchenweise ins Denken der Politik vor: „Hilferufe von Schulleiterinnen und Schulleitern haben die Beauftragte erreicht, die davon zeugen, daß die Lage vor Ort sehr ernst ist und sich teilweise verschlechtert hat.“ Das gilt auch für die Zuwandererkriminalität. Was im Alltag immer mehr Sorgen bereitet, behandelt der Bericht weit hinter „Genitalverstümmelung“ oder dem Medienzugang von Einwanderern.

Trotz aller Statistik-Verklärung: „Dennoch liegt ein Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger bzw. Verurteilter von etwa 21 Prozent – so scheint es auf den ersten Blick – nach wie vor deutlich über dem Anteil der Ausländerinnen und Ausländer an der Gesamtbevölkerung von 8,9 Prozent.“ Diesen Widerspruch zur politisch korrekten Sicht vermag der Bericht nicht aufzulösen. „Der Vergleich täuscht“, behauptet das Papier: Ausländer seien eben jünger, häufiger arbeitslos, weniger gebildet, häufiger Männer und somit – eben –  benachteiligt.

Foto: Schüler aus Zuwandererfamilien an einer deutschen Schule: Warum gehen eher Iraner aufs Gymnasium als Türken?

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