© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Sklaven im 21. Jahrhundert
Menschenhandel in Deutschland: Die steigende Zahl von Ermittlungsverfahren offenbart die Brisanz eines verdrängten Themas
Toni Roidl

Im Jahr 2006 konnte eine äthiopische Köchin aus einem äthiopischen Restaurant in Berlin fliehen, die dort jeden Tag 17 bis 19 Stunden zur Arbeit gezwungen wurde. Den Paß hatte man ihr weggenommen. Als Analphabetin ohne deutsche Sprachkenntnisse war sie den Drohungen der Inhaber hilflos ausgesetzt. Ihr Lohn nach eineinhalb Jahren Sklavenarbeit: fünfhundert Euro.

Über die Dunkelziffer kann nur spekuliert werden

Das Schleppen solcher Menschen (im internationalen Behördenjargon „Trafficking“) erfordert ein weitverzweigtes und gut funktionierendes Netzwerk von Dokumentenfälschung, Korruption, Transport, illegaler Beschäftigung und Geldwäsche. Dennoch sind Fälle wie dieser alltäglich. Dagegen hilft auch die UN-Konvention zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels aus dem Jahr 2000 nichts, der 2005 eine entsprechende EU-Rahmenrichtlinie folgte. Das deutsche Strafrecht wurde dieser angepaßt und definiert Menschenhandel nun durch die Paragraphen 232 und 233 des Strafgesetzbuchs (StGB) als Straftat gegen die persönliche Freiheit des Menschen.

Doch das schreckt Menschenhändler nicht ab, denn die Ausbeutung fremder Arbeitskraft oder Sexualität ist zu lukrativ. Laut einer aktuellen Studie des Bundeskriminalamts („Menschenhandel – Bundeslagebild 2009“) wurden im vergangenen Jahr über 500 Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung abgeschlossen. Das sind elf Prozent mehr als im Vorjahr. Auch in diesem Jahr war die Polizei stark beschäftigt: Im Februar durchsuchten Beamte rund 600 Bordelle in 13 Bundesländern, um Fälle von Menschenhandel nachzuweisen.

Trotz solcher Aktionen und Teilerfolgen ist das Ausmaß des Phänomens kaum zu erfassen. Die Zahl der Opfer im jährlichen Lagebericht Menschenhandel des BKA beruht lediglich auf den Fällen, in denen es zu einem Ermittlungsverfahren gekommen ist. Über die Dunkelziffer kann nur spekuliert werden.

Bei Razzien fallen nur Personen ohne Aufenthaltserlaubnis auf. Doch viele Frauen werden völlig legal nach Deutschland gebracht, inklusive Touristenvisum und Einladung. Hier wird ihnen von ihrem Helfer eröffnet, daß sie eine Scheinehe eingehen müssen, um einen Aufenthaltstitel zu erreichen. Damit sind die Frauen von ihren „Ehegatten“ abhängig. Würden sich die Frauen hilfesuchend an deutsche Behörden wenden, flöge die Scheinehe und damit die Grundlage des Aufenthalts auf. Daher sagen solche Opfer selten gegen Täter aus. Diese waren in 60 Prozent der Fälle Ausländer, überwiegend Türken und – seit dem EU-Beitritt ihrer Länder im Jahr 2007 – Bulgaren und Rumänen.

Die „Ehe“ sieht dann meist so aus, daß die Frauen ihre „Schulden“ für die Reise, Papiere und Logis abarbeiten müssen. Opfer aus Mittel- und Osteuropa berichten von Phantasiepreisen von 3.500 Euro; Afrikanerinnen sollten schon das Zehnfache zahlen. Dafür müssen sie dann bis zu 19 Stunden am Tag unter Sklavenbedingungen schuften oder sich sexuell ausbeuten lassen.

 Schätzungen des Deutschen Instituts für Menschenrechte gehen von aktuell 30.000 Sklaven in Deutschland aus, überwiegend Frauen. Darunter fallen nicht nur Prostituierte, sondern eine Vielzahl Haushaltshilfen oder Hilfsarbeiter in der Gastronomie, Landwirtschaft, häuslicher Pflege und im Baugewerbe.

Opfer werden mit Voodoo eingeschüchtert

Nach Angaben des BKA werden derzeit in Deutschland Menschenhändler aus Nigeria immer aktiver. Neben der Angst vor Abschiebung und Mißhandlung würden deren Opfer aus traditionell geprägten bildungsfernen Schichten mit Angst vor Voodoo-Zauber eingeschüchtert.

Doch nicht nur die vorgetäuschten, auch die unter Zwang zustande kommenden Ehen sind ein Schwerpunkt des Problems. Auch hier ist nur die Spitze des Eisbergs zu sehen. So müssen zum Beispiel Ehefrauen vor der Einreise nach Deutschland seit August 2007 im Herkunftsland einen Nachweis über deutsche Sprachkenntnisse erwerben. So weit so gut. Doch beobachten seitdem Hilfsorganisationen, daß nicht wenige Ehemänner der Meinung sind, sie hätten mit der Finanzierung des Sprachtests viel in die Einreise der Frauen investiert und könnten daher Gegenleistungen erwarten. Gegenüber der vom Berliner Senat geförderten Beratungs- und Koordinationsstelle gegen Menschenhandel „Ban Ying“ (zu deutsch: Haus der Frauen) haben Frauen berichtet, daß ihre Gatten nach der Einreise von ihnen erwartet haben, daß sie die Kosten „abarbeiten“.

Der deutsch-libanesische Islamwissenschaftler Ralph Ghadban veröffentlichte 2006 die Studie „Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin“, nach der zu diesem Zeitpunkt alle Ehen unter muslimischen Libanesen ausnahmslos arrangierte Ehen waren. Ghadban vermutet, daß dabei der Anteil der gegen den ausgesprochenen Willen der Frauen geschlossenen Ehen erheblich ist. Ähnliches trifft nach Studien von Werner Schiffauer auch auf Türkinnen in Deutschland zu. Schiffauer ist Mitherausgeber des Migrationsreports und gehört dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration an. Seit dem Jahr 2000 kommen jährlich rund 25.000 türkische Frauen nach Deutschland, um hiesige Türken zu heiraten.

2004 befragte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für eine ähnliche Studie 150 türkische Frauen, von denen zehn Prozent unfreiwillig eine Ehe eingegangen waren. Der deutsch-türkische Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak (FH Dortmund) ging nach seiner Befragungsstudie mit türkischen Männern von einem höheren Anteil Zwangsehen aus. Eine Vertreterin von Terre des Femmes mutmaßt, daß in Deutschland jährlich mehr als eintausend Mädchen in den Ferien in die Türkei, in den Libanon, den Irak und Kosovo oder nach Syrien gebracht werden, um dort zwangsverheiratet zu werden.

Gewinne fließen zu Terrororganisationen

Ein weiteres Augenmerk der Ermittler gilt den Hausangestellten von Diplomaten. Diplomatenpersonal lebt in einer speziellen ausländer- und arbeitsrechtlichen Lage. Ihr Aufenthalt ist an die Tätigkeit des Botschafters geknüpft. Diese unterstehen aufgrund diplomatischer Immunität nicht der deutschen Gerichtsbarkeit. 80 Prozent der Hausangestellten von Diplomaten in Berlin sind philippinische bzw. indonesische Frauen.

Nach Information des „Ban Ying“-Zentrums sind Asiatinnen besonders gefährdet, Opfer moderner Sklaverei zu werden: Der Sri Lanka Guardian meldete am 26. Mai 2010, daß pro Monat (!) dreißig Hausmädchen tot von der arabischen Halbinsel zurückkehren. Spektakuläre Fälle rohester Mißhandlungen asiatischer Dienstmädchen durch arabische Diplomaten gingen in jüngster Zeit auch durch die europäische Presse, zuletzt als Hannibal Gaddafi 2008 beschuldigt wurde, eine Hausangestellte zusammengeschlagen zu haben. Im Januar desselben Jahres berichtete der Spiegel über Details aus einer Berliner Diplomatenwohnung am Potsdamer Platz. Ein hochrangiger Botschafter aus dem Jemen ließ seine indonesische Hausangestellte zwanzig Stunden am Tag schuften, sperrte sie ein und bestrafte sie mit Schlägen und Essensentzug für kleinste Verfehlungen. Vom Auswärtigen Amt heißt es dazu: „Die Problematik ist uns bekannt.“

Einen anderen alarmierenden Aspekt berichtete das Fernsehmagazin Report München im April 2009 über Schleuserbanden, die Iraker für bis zu zehntausend US-Dollar pro Kopf über die Türkei nach Deutschland bringen. Die Banden, die sich teilweise hinter legalen Reisebüros verstecken, lassen Gewinne aus dem Menschenhandel an Terrororganisationen fließen oder bringen aktive Terroristen nach Deutschland, damit diese hier unbehelligt Anschläge planen und organisieren können.

Demgegenüber wirkt der „Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“ weniger gefährlich. Doch der Schein trügt. Der BKA-Bundeslagebericht spricht eine deutliche Sprache. Doch was tun?

 Netzwerke im Ausland erschweren die Arbeit

Die Polizei tappt oft im dunkeln. Undurchdringliche Netzwerke im Ausland und durch physische und psychische Gewalt gefügig gemachte Opfer stellen die deutschen Strafverfolgungsbehörden vor eine schwierige Aufgabe. Für BKA-Chef Jörg Ziercke gibt es dennoch eine Lösung: „Nur wenn es uns gelingt, das Vertrauen der Opfer zu gewinnen und sie zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden zu bewegen, können wir den Kreislauf aus Unterdrückung, Einschüchterung und Abhängigkeit zwischen Opfern und Tätern durchbrechen.“

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