© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Rente mit 70
Karl Heinzen

In ihrem soeben publizierten Grünbuch zur Zukunft der Pensions- und Rentensysteme zeigt sich die EU-Kommission alarmiert über die Konsequenzen der demographischen Entwicklung in Europa. Stehen jedem über 65jährigen Bürger heute noch vier erwerbsfähige Personen gegenüber, die für die Finanzierung seiner Ruhestandsbezüge sorgen können, so wird dieser „Altersquotient“ bis zum Jahr 2060 auf eins zu zwei sinken.

Offenbar hat Brüssel die Hoffnung aufgegeben, daß der Vergreisung der europäischen Gesellschaften durch eine forcierte Masseneinwanderung wirksam gegenzusteuern wäre. Das Grünbuch identifiziert nämlich nur drei Strategien, die für eine Sicherstellung der Altersversorgung befolgt werden könnten. Zum einen wäre vorstellbar, die Höhe der Renten sukzessive zu senken, so daß die den aktuell Erwerbstätigen aufgebürdeten Sozialabgaben eine gewisse Schmerzgrenze nicht überschreiten. Die Konsequenz wäre jedoch eine beständig wachsende Altersarmut. Die zweite Alternative bestünde darin, die Rentenbeiträge unablässig anzuheben, um den Lebensstandard der Ruheständler unangetastet lassen zu können. Die Folge wäre hier eine kaum durchzusetzende Belastung der Beschäftigten.

Die dritte Alternative ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Würde das Renteneintrittsalter bis 2060 europaweit auf 70 Jahre angehoben, könnte das derzeitige System der Altersversorgung im großen und ganzen beibehalten werden. Dieser Strategie gibt die EU-Kommission mit plausiblen Argumenten den Vorzug: Die Lebenserwartung der Menschen steigt, und damit das Verhältnis der Zeit, in der sie den Ruhestand genießen können, zu den Jahren ihrer Erwerbstätigkeit in etwa gleich bleibt, müssen sie eben später in Rente gehen. Das Problem ist allerdings, daß die Wirklichkeit – wie so oft – viel komplexer ist, als es die Statistik suggeriert. Die Lebenserwartung steigt nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen, sondern in Abhängigkeit von zahlreichen Faktoren höchst unterschiedlich. Ein zentraler Faktor ist der soziale Status. Wohlhabende haben weitaus größere Chancen, ein hohes Alter zu erreichen, als sozial Schwache. Diesem Umstand gilt es Rechnung zu tragen, indem das Renteneintrittsalter der Gutverdiener deutlich höher gesetzt wird als jenes der Bezieher kleiner Einkommen. Dies wäre nicht nur gerecht, sondern auch ökonomisch vernünftig und den Bedürfnissen der Betroffenen gemäß: Wer viel verdient, ist im Wirtschaftsleben zumeist schwerer zu ersetzen – und sein Job macht ihm mehr Spaß.

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