© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Krieg in den Städten
Literatur: Reinhard Jirgl erhält den Büchner-Preis
Harald Harzheim

Georg Büchner, Namenspatron des wohl wichtigsten deutschen Literaturpreises, steht – in „Woyzeck“ oder „Dantons Tod“ – nicht nur für expressionistische Sprache, sondern auch für Desillusion und Apokalypse. In beider Hinsicht ist der von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erwählte diesjährige Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl ein würdiger Kandidat.

Geboren 1953 in Ost-Berlin, ausgebildet als Elektromechaniker und studierter Hochschulingenieur, traf er als Zwanzigjähriger auf den Lyrikerkreis um Ulrich und Charlotte Grasnik. Dies und seine Tätigkeit als Beleuchter an der Berliner Volksbühne wurden zu prägenden Erlebnissen. So versteht er heute noch die Seiten seiner Romane als Bühnenbilder, von dreidimensionalen Charakteren bespielt.

Bald bemerkte der Dramatiker Heiner Müller sein Talent. Trotz dieser Protektion fanden seine Skripte zu DDR-Zeiten nie den Weg in die Druckerei. Erst seit 1990 platzt ihm eine literarische Bombe nach der anderen. Büchners totes Universum, im „Woyzeck“-Kindermärchen dargelegt, wird von Jirgl auf den neuesten Stand gebracht: „Die Erde war in-den All=Weiten der Galaxis ohnehin der letzte Planet, auf dem solch organisch=fossile Lebensformen noch existiert hatten, 1 Nachzügler“, heißt es in seinem jüngsten Roman „Die Stille“ (2009). Von dem „misanthropischen Zeitroman“ (taz) war der Rezensent der FAZ „überwältigt mit der ganzen Wucht des Existentialismus“.

Als Verehrer von Ernst Jünger, George Bataille, Carl Schmitt und Louis F. Céline kreiert er ein absurdes Universum voller Krieg, Angst und Apokalypse. Krieg in der Liebe, Krieg in den Städten, Krieg in zermarterter Psyche, Krieg innerhalb von Machtstrukturen sowie Ost-West-Zerreißproben – angesiedelt auf Schauplätzen wie dem ehemaligen Todesstreifen der DDR-Grenze. Mitten reingeschossen: Fragmente von Nietzsche und Foucault, so im Roman „Abtrünnig“ (2005).

Gemeinsam mit dem JF-Autor Andrzej Madela publizierte er 1993 den Essayband „Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotaler Mentalität“, dessen „kompromittierende Terminologie“ (Erk Grimm) und Bezugnahme auf Autoren wie den französischen Kollaborateur Pierre Drieu de la Rochelle bei manchen Kritikern auf Unbehagen stieß. Dennoch erhielt er zahlreiche Auszeichnungen wie den Anna-Seghers-, Alfred-Döblin- und Lion-Feuchtwanger-Preis.

Nicht nur der Focus bezeichnet Jirgls Sprache als „gewöhnungsbedürftig“. Deren Komplexität ist dem Autor aber kein Spiel: Im Interview erklärte Jirgl, daß man beim Aufbrechen klassischer Sprachstruktur erkennt, „was in den Buchstaben stecken könnte – nämlich Körper- und Charaktersignale“. Deshalb begreift er seine Charaktere als dreidimensionale Bühnen-Körper, die in endlosen Monologen und Reflexionen das Weltenchaos zu sortieren suchen. Das naturalistische Geschehen wird durch die Sprache endlos verdichtet, in Assoziationen und Mehrdeutigkeiten verstrickt. Naheliegende Assoziationen zu James Joyce oder Arno Schmidt weist Jirgl jedoch weit von sich. Eigentlich ist er ein Bühnenautor, trotz der Romanform – so wie Büchner.

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