© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Dem Wikipedia-Sozialismus gehört die Zukunft
Ein Alt-68er und ein Linksextremist sinnieren über die brüchige Vision des Kapitalismus und hoffen auf „Verjüngung“ sozialistischer Ideen durch das Internet
Michael Lösch

Das Wort „Utopie“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet wortwörtlich Nichtörtlichkeit, auch Nirgendwo genannt. Nun ist die Vermessung von etwas Nichtörtlichem keine leichte Angelegenheit, aber die Autoren Raul Zelik, politischer Romancier aus der linksradikalen Schmuddelecke, und Elmar Altvater, ehemals SDS-Mitglied, Professor für politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut der FU-Berlin und heute Attac-Mitglied, lösen das Titelrätsel schon gleich zu Beginn auf. Es soll eine Art Negativvermessung stattfinden, ein Aufzeigen, was alles nicht mehr so weitergehen soll wie bisher, damit es in Zukunft ein wenig utopisch wird.

Dazu arbeiten sich die beiden an allerlei Vergangenem und Gegenwärtigem ab. Sie sinnieren darüber, wie sich die Ökonomie aus ihrer ursprünglichen Einbettung in Politik und Gesellschaft  zu einer rein abstrakten Entscheidungslehre mit dem Fetisch Gewinnmaximierung verselbständigen konnte. Sie tasten den Patienten Gegenwartskapitalismus auf Brüchigkeiten und Porositäten ab. Sie gehen detailliert auf die große Krise ein, jene gewaltige Polonaise an Wertevernichtung, wenn das Kapital anstelle realen Zinsnachwuchses zu viele spekulative Fehlgeburten hervorbringt. Da platzen erst reihenweise Hypotheken, der Immobilienmarkt implodiert infolge seines Überangebots, die Besitzer fliegen aus ihren Häusern, und die Häuser beginnen  zu vergammeln, weil niemand mehr drin wohnt, bis sie dann eine angesagte Adresse für die Abrißbirne werden.

Aber auch der Sozialismus kriegt sein Fett weg, denn dieser hat, so Altvater und Zelik, anders als der Kapitalismus sein 1968 nicht als Chance zur Verjüngung begriffen, sondern buchstäblich mit Panzern platt gemacht. Gelegentlich schimmert es auch tiefgrün, wenn die Vergesellschaftung von natürlichen Ressourcen gefordert wird, weil anders als spekulative Gewinnblasen die Erdöl- und Luftvorkommen eben nicht von alleine wachsen und man aus einem Aquarium wohl eine Fischsuppe machen kann, aber aus einer Fischsuppe kein Aquarium. Der Text ist dialoggeformt, ein Kamingespräch zwischen Buchdeckeln, ein Reißverschluß an Einvernehmen und Ergänzung. Das kommt nicht immer spannend, dafür aber gelegentlich mit einem Schuß zuviel an Harmonie daher. Gelegentlich macht Zelik den wagemutig visionären Vorprescher, um dann ein wenig altväterliche Zurückhaltung auferlegt zu bekommen.

So weit, so gut. Ob und inwieweit die beiden dem Kapitalismus auch positive Tugenden wie die wettbewerbsgarantierte Weitergabe von Kostenvorteilen und treffsichere Leistungsanreize abgewinnen können, bleibt über die gesamte Lektüre hinweg etwas unklar. Wenn Zelik die Entmachtung herrschender Eliten vorschlägt und fordert, daß Produzenten und Konsumenten demokratisch über den Einsatz von Produktionsmitteln bestimmen sollen, dann droht die Sache gegen Ende doch etwas ins räterepublikanische Fahrwasser zu geraten.

Auch Altvaters Kernbehauptung, daß es für lebbare Alternativen zum Kapitalismus keiner umerzogenen neuen Menschen bedarf, sondern daß die bereits vorhandenen Vorkommen an Verstand, Solidarität und Verantwortungsgefühl dazu vollkommen ausreichen, darf in ihrer Breitenannahme durchaus angezweifelt werden. Seine Verweise auf die anonym und unentgeltlich mitgestaltete Internet-Enzyklopädie Wikipedia und auf das Open-Source-Betriebssystem Linux, das ebenfalls als freie und offene Kooperation im Internet weiterentwickelt wird, liefern immerhin ein paar Belege dafür, daß Wirtschaften nicht immer nur auf entgeltlicher Vergütung basieren muß, sondern durchaus auch solidarisch angelegt sein kann. Dadurch gelingt es den beiden, aus dem großen rätselhaften Nirgendwo ein paar kleine, wenn auch zaghafte Irgendwos zu machen. Ansonsten ist das Werk eher als kleiner Katechismus an teilqualifizierter Kapitalismuskritik einzuordnen.

Raul Zelik, Elmar Altvater: Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft. Blumenbar-Verlag, Berlin 2009, broschiert, 206 Seiten, 14,90 Euro

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