© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Dem Modewort „Zivilcourage“ mißtrauen
In der Wahrheit leben: Eine Ausstellung der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung über Widerstandsbiographien im Totalitarismus
Christian Dorn

Der Begleittext einer Wanderausstellung der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung geht erst einmal auf Nummer Sicher und pariert befürchtete Vorwürfe aus der „antifaschistischen“ Ecke vorsorglich: „Vergleichen“ wolle man die beiden Systeme nicht. Die für Schulen konzipierte Exposition versammelt nämlich unter dem Titel „In der Wahrheit leben“ herausragende Biographien vom Widerstand in den beiden totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts: der nationalsozialistischen Herrschaft von 1933 bis 1945 und der Ära des 1917 in die Weltgeschichte getretenen Kommunismus, der ab 1944 auf Osteuropa übergriff. Insofern ist die rhetorische Generalversicherung gegen den allfälligen „Relativierungs“-Verdacht im Vorwort zur Ausstellung wohl pflichtgemäß. Doch zum Glück bleibt dies die einzige Verrenkung.

Tatsächlich kommt der Ausstellung das Verdienst zu, Schüler für einen epochenübergreifenden Begriff von Diktaturerfahrung und Widerstand zu sensibilisieren. So ergibt sich in dem Spalier der Schautafeln – auf der einen Seite der Kreisauer Kreis, die Weiße Rose und der Umsturzversuch des 20. Juli 1944, auf der anderen der Widerstand gegen die kommunistischen Regime in Rußland und Osteuropa – ganz von selbst eine Begegnung der beiden Totalitarismen auf Augenhöhe. Besonders wertvoll sind dabei die zumeist unbekannten Heldengeschichten des Ostens, die vom Widerstand im Stalinismus und in den sowjetischen Satellitenstaten künden.

Zu den Porträtierten gehört der ukrainische Dichter Wasyl Stus (1938–1985), der 1972 wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt worden war. Sein Fazit 1976: „Ich schätze die Fähigkeit, in Würde zu sterben. Das ist mehr wert, als Verse zu schmieden.“ Berührend ist die Erinnerung eines Mithäftlings Michael Hajfec: „Wasyl ist so geschaffen, daß er keine Unwahrheit sagen kann, selbst wenn ihn dies retten könnte.“

Kritik am Kommunismus endete im Martyrium

Neben Stus begegnen wir dem polnischen Studentenführer Jacek Kuron (1934–2004), in dessen Haus sich polnische Oppositionelle trafen und der für seine Kritik am Sozialismus insgesamt neun Jahre im Gefängnis verbrachte – einer Heilanstalt insofern, als ihn diese Zeit endgültig vom Marxismus kurierte. Auch wird an das Fanal des 59jährigen Ryszard Siwiec erinnert, der sich im September 1968 auf einer propagandistischen Massenveranstaltung in Warschau verbrannte, um seinen Protest gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei auszudrücken. Er gehört damit in einen Martyriums-Kanon, der bislang offiziell nur die Namen Oskar Brüsewitz und Jan Pallach kennt.

Im deutlichen Widerspruch zu einem vielzitierten Antifa-Spruch unserer Tage steht die Einsicht von Leopold Tyrmand in dessen „Tagebuch 1954“: „Der Kommunismus ist für mich ein Irrtum und ein Verbrechen.“ Besonders deutlich wird an den Ländern Polen und Litauen dokumentiert, wie der Katholizismus einen geistigen Rückhalt bildete, aus dem heraus Akte des Heroismus möglich waren. Beispiele hierfür sind die Bekenntnisse der katholischen Geistlichen Jan Zieja (1887–1991) und des von Papst Benedikt XVI. im Juni 2010 seliggesprochenen Märtyrers Jerzy Popieluszko (1947–1984), der vom polnischen Geheimdienst ermordet worden war. Beide stehen für eine Botschaft, die Zieja 1952 formulierte: „Wahrheit ist dasselbe wie Gott.“

Von didaktischem Gewinn scheinen auch die mit der Ausstellung verbundenen Besuche von Zeitzeugen des Widerstands, so kürzlich geschehen in der Bertha-von-Suttner-Oberschule Berlin. Dort erzählte Axel Smend, Vorsitzender der Stiftung 20. Juli 1944 und Sohn eines Widerstandskämpfers, daß er dem oft bemühten Modewort „Zivilcourage“ mißtraue. Zudem dokumentieren immerhin einige Schüler ein erstaunliches historisches Abstraktionsvermögen, etwa als ein jugendlicher Besucher feststellt, daß das Scheitern des 20. Juli 1944 doch ganz im Sinne der Alliierten gewesen sein muß. Darauf Smend: „Ich stimme Ihnen vermutlich zu. Ich kann mir das kaum vorstellen.“

Informationen zu Ausleihbedingungen und Terminen: Kreisau-Initiative in Berlin e.V., Tel.: 030/ 53 83 63 60, E-Post: avz-berlin@kreisau.de

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