© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Die vergessenen Opfer
Verdrängte Geschichte: Das Schicksal der deutschen Wolfskinder als Teil einer Tragödie
Martin Lichtmesz

Im Jahre 2008 gestand die belgische Schriftstellerin Misha Defonseca, daß ihr angeblich autobiographischer Bestseller „Überleben unter Wölfen“, übersetzt in 18 Sprachen und für das Kino verfilmt, eine freie Erfindung ist. Das Buch schildert die (allzu) abenteuerliche Odyssee eines jüdischen Waisenkindes im Zweiten Weltkrieg, das sich, beschützt von Wölfen, in den Wäldern vor den Nazibesatzern versteckt, die ihre Eltern deportiert haben. Defonseca erwies sich als nichtjüdische Hochstaplerin, die offenbar schwer an einem dunklen Punkt in der Familiengeschichte litt: ihr Vater hatte sich vom Widerstandskämpfer zum Kollaborateur umdrehen lassen. Der Erfolg Defonsecas und anderer vergleichbarer Autoren wie Binjamin Wilkomirski läßt sich wohl nur durch ein kulturelles Klima erklären, in dem der „Holocaust“ die Rolle einer großen, alles überdachenden mythischen Erzählung eingenommen hat.

Demgegenüber können die Lebensgeschichten der tatsächlichen „Wolfskinder“ des Zweiten Weltkriegs, die ostpreußischen Waisenkinder, die nach dem unvorstellbaren Horror des Krieges zu Tausenden in Litauen herumirrten und dort zum Teil eine neue Heimat und Identität fanden, kaum eine ähnliche Resonanz erwarten. Sie gehören zur „anderen“, verdrängten, abgeschobenen und bagatellisierten Geschichte des Krieges. Ihr Schicksal war über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten, und weder im sowjetisch beherrschten Litauen, noch in der Bundesrepublik und der DDR, wo viele dieser Kinder später hingelangten, hatten sie eine Möglichkeit, eine eigene Stimme zu finden. Erst nach der Wende sollte sich dies allmählich ändern.

Bereits 1990 drehte der Schauspieler Eberhard Fechner einen zweistündigen Dokumentarfilm, und seither ist eine Vielzahl von Publikationen zu dem Thema erschienen. Es scheint, daß die emotionale Barriere, sich dieser vergessenen Opfer des Krieges zu widmen, geringer ist, als bei anderen Opfergruppen. Den Unschuldigsten und Wehrlosesten kann man schlecht vorwerfen, durch Verstrickung in den Nationalsozialismus selbst die Verantwortung für ihr Leiden zu tragen, nichts anderes als bestrafte „Täter“ zu sein. Nicht ohne Grund war das Kapitel über die „Wolfskinder“ des TV-Dreiteilers „Kinder der Flucht“ (2006)  der gelungenste und anrührendste Teil der Serie: denn hier konnte man sich erlauben, die ängstlichen Scheuklappen der Bewältigung für einen Moment herunterzufahren.

Die Geschichte der in Litauen aufgewachsenen Wolfskinder kann auch die heutigen Generationen von Deutschen lehren, was es bedeutet, nicht nur eine Heimat, sondern auch die eigene Identität aufgeben zu müssen. Der Verlust der Familie, der Sprache und des eigenen Namens konnte das Bewußtsein über die eigene Herkunft nicht restlos auslöschen. Dies muß den heutigen Deutschen, die ihre nationale Identität entsorgt und relativiert sehen wollen, befremdlich erscheinen, sollte ihnen aber zu denken geben. Die Wolfs-kinder selbst mußten nach der Wende feststellen, daß der deutsche Staat insgesamt wenig Interesse hatte, sie als versprengte Teile seines Volkes willkommen zu heißen. Hilfe und Zuwendung kamen eher zaghaft und halbherzig. 2007 wurde ein Antrag auf Sozialhilfe der noch in Litauen lebenden „Wolfskinder“, etwa 200 Menschen, von drei Ministerien einstimmig abgelehnt.

Die eigentümliche emotionale Verhärtung der Deutschen gegenüber dem Schicksal des eigenen Volkes im Zweiten Weltkrieg hat Ursachen, deren Ergründung in Zonen führt, in denen es schwierig wird, politische und psychologische Dispositionen voneinander zu trennen. Die überzogen aggressiven Reaktionen etwa des Vertriebenensohnes Sigmar Gabriel auf Erika Steinbachs ebenso moderate wie historisch fundierte und legitime Forderungen, als auch ganz generell der sich seit Jahren zäh dahinschleppende Streit um das „Zentrum gegen Vertreibungen“, weisen auf innerdeutsche Konflikte hin, in denen die zu Klischees gewordenen Generalklauseln eher eine Abwehr- als eine Aufklärungsfunktion übernehmen. Sie schieben sich wie eine Schranke vor das Bewußtsein der Deutschen, offenbar um eine Flut von Emotionen und Affekten zurückzuhalten und den Blick auf sich selbst zu versperren. Dies kann auf die Dauer nur fatale Folgen sowohl politischer als auch seelischer Natur haben.

Die 1947 geborene Journalistin Sabine Bode, Autorin des Bestsellers „Die vergessene Generation – Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ stellte 2002 in einem Vortrag die Frage, ob es „eine Verbindungslinie gibt zwischen den beschwiegenen Kriegsfolgen und dem so auffälligen Phänomen  in Politik und Gesellschaft, das mit dem Wort Lähmung nur sehr unzureichend beschrieben ist“. Über die Hälfte des Kabinetts Schröder etwa setze sich aus „Kriegskindern“ zusammen, deren mitgebrachte „unbewußte kollektive Ängste“ erheblichen Einfluß auf deren „politisches Handeln  bzw. das Vermeiden von Handeln“ hätten. Die Dispositionen der Kriegskinder hätten sich indessen auch auf die Enkel weiterverschleppt.

In dieser Perspektive kennzeichen auch die Ängste vor einer „Relativierung“ der NS-Verbrechen, vor „Geschichtsrevisionismus“ und „Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle“ psychische Schranken, die Dinge umzäunen, derer man sich lieber entledigen will. Bode hob neben dem Trauma und dem Tabu jedoch auch einen anderen Grund hervor, warum die deutschen Opfer sowenig über ihre Erlebnisse gesprochen, ja sie selbst heruntergespielt haben: Die Deutschen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration waren kein Volk von selbstmitleidigen Jammerern, sondern von Überlebern und Durchbeißern. Und in der Tat spielen auch heute noch die Deutschen äußerst ungern die Opferrolle, selbst die Funktionäre der Vertriebenenverbände nicht. Es ist aber nun die Aufgabe der jüngeren Generationen, die ererbte Verhärtung aufzulösen, und damit eine empathische Brücke des Respekts und der Verbundenheit zu den Generationen der Eltern und Großeltern zu schlagen, um den Bruch, aus dem die deutsche „Lähmung“ hervorgeht, zu heilen.

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