© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Bürgerliche Revolte
Hamburger Schulpolitik-Pleite: Merkels Bildungsrepublik ist ferner denn je
Josef Kraus

Was ist bloß los mit der Merkel-CDU? Sechs Länderchefs sind ihr binnen eines Jahres abhanden gekommen. Überhaupt scheinen Personen in der CDU problemlos austauschbar, beliebig eintauschbar etwa auch gegen bildungspolitische Frontkämpfer anderer Parteien. So hatten zuletzt von den neun CDU-Ministerpräsidenten nur noch ganze vier einen CDU-Schulminister in ihren Kabinetten – in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Sachsen. In Thüringen hat man das betreffende Ressort der SPD, in Hessen und Schleswig-Holstein der FDP – ja, und im Saarland und in Hamburg den Grünen überlassen. Und das mit Zustimmung einer CDU, für die Schulpolitik immer das Filetstück, die Herzkammer eines kompetitiven Föderalismus war!

Offenbar beliebig austauschbar sind aber auch die Ziele der CDU-Bildungspolitik. Das rächte sich jetzt bitter in Hamburg. Mit 55,9 gegen 44,1 Prozent beziehungsweise mit 276.304 gegen 218.065 Stimmen haben Hamburgs Bürger entschieden: Wir wollen keine Primarschule, wir wollen keine auf sechs Jahre verlängerte Grundschule, deren Einführung obendrein bis 2016 rund 430 Millionen Euro gekostet hätte.

Ein solches Votum der Hamburger kommt einer bürgerlichen Revolte gleich. Verlierer ist deshalb die CDU, deren Bildungspolitik in ihrer Profillosigkeit – nicht nur – in Hamburg zur offenen Flanke geworden war. In Hamburg jedenfalls hatte die CDU im April 2008 einen schwarz-grünen Koalitionsvertrag ausgehandelt, der eher das Ergebnis eines Kuhhandels denn profilierter Überzeugungen war. Die CDU wollte als „Wirtschaftspartei“ beispielsweise das Ausbaggern der Elbe auf 14,50 Meter durchsetzen. Die Öko-Partei wollte dies nicht, sie wünschte aber qua Verlängerung der Grundschulzeit den Einstieg in eine Vereinheitlichung des Schulsystems. Das Ergebnis wäre gewesen: Elbvertiefung plus Bildungsverflachung.

Als sich im Mai 2008 gegen die Pläne einer verlängerten Grundschule die Initiative „Wir wollen lernen“ (WWL) formierte, ging ein Riß durch die CDU. Der schulpolitische Autismus der Hamburg-CDU setzte sich gleichwohl fort. Der CDU-Mann Ole von Beust scheute sich nicht einmal, klassenkämpferische Töne anzuschlagen und den Vertretern von WWL zu unterstellen, hier handle es sich um „Gucci-Eltern“, die nicht wollten, daß ihre Kinder mit Migrantenkindern zusammen lernten.

Im November 2009 hatte WWL trotzdem 184.500 Unterschriften für einen nachfolgenden Bürgerentscheid aufgeboten. Das war etwa das Dreifache an Unterschriften, die notwendig gewesen wären (nämlich 62.000). Jetzt ging die Stadtregierung aber erst recht trickreich zu Werke. Der Termin für den Bürgerentscheid wurde mitten in die Sommerferien gelegt. CDU und SPD warben mit nahezu identischen Plakaten, auf denen ein Mädchen den Wählern zuruft: „Deine Stimme für meine Zukunft!“ – „Sag JA zur Primarschule!“. Ein JA zur Primarschule war auf dem Plakat mit zwei gefälligen Versprechen kombiniert: „Kleinere Klassen bis zur Sechsten“ – „Elternwahlrecht bleibt“. Ein Schelm, der Schlechtes bei all dem denkt.

Und nun dieses Ergebnis! Gewisse Kreise suchen es schon herunterzuspielen: geringe Wahlbeteiligung. Stimmt nicht! Die Wahlbeteiligung in Hamburg war vergangenen Sonntag mit 39 Prozent sogar höher als die Wahlbeteiligung der Hamburger bei der Europawahl 2009 (34,7 Prozent). Interessant auch: In bürgerlichen Stadtbezirken kam es zu einer Beteiligung von über 50 Prozent. Dagegen blieben Bezirke mit geringerem Sozialstatus bei Beteiligungsraten zwischen 17 und 25 Prozent. Vielleicht glauben sozial schwächere Schichten dem Versprechen der Regierenden am allerwenigsten, mit einer Verlängerung der Grundschule werde mehr „Bildungsgerechtigkeit“ installiert.

Die Hamburger Entscheidung wird bundespolitische Auswirkungen haben. Den Koalitionen im Saarland („Jamaika“) und in NRW (rot-grüne Minderheitsregierung) dürfte es jetzt noch schwerer fallen, ihre Pläne einer längeren Grundschulzeit zu begründen. Von NRW weiß man seit 1978 (Bürgerbegehren gegen die Kooperative Gesamtschule) zudem, daß es dort gleichfalls erhebliche bürgerliche Mobilisierungspotentiale gegen jegliche Form von Einheitsschule gibt.

Auswirkungen muß das Hamburger Referendum vor allem für die CDU haben. Die programmatische und die personelle Erosion der CDU sind bei ihr zu den beiden Seiten ein und derselben Medaille geworden. All dies paßt nicht zu einer „Bildungsrepublik“, die die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Merkel ausgerufen hat.

Gewinner in Hamburg sind jedenfalls die Kinder, die auch zukünftig bereits ab der 5. Klasse eine schulische Differenzierung erfahren. Schließlich haben alle namhaften Studien bewiesen, daß viele Kinder durch eine verlängerte Grundschule gebremst und auch schwache Schüler mit einem sogenannten längeren Lernen nicht besser gefördert werden. Gewinner ist Hamburg insgesamt, denn eine Verlängerung der Grundschule hätte die Hansestadt – siehe die „Vorbilder“ Berlin und Brandenburg – auf Dauer im Pisa-Tabellenkeller eingekerkert.

 

Josef Kraus ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)

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